Amerikanische Literatur:Der seltsame Fall des Junot Díaz

Die Missbrauchsvorwürfe gegen den renommierten Schriftsteller lösen sich zusehends in Luft auf.

Von Felix Stephan

Etwas mehr als acht Wochen ist es jetzt her, dass der amerikanische Schriftsteller Junot Díaz überstürzt das Literaturfestival in Sydney verlassen hat, nachdem ihn die Autorin Zinzi Clemmons öffentlich der sexuellen Nötigung bezichtigt hatte. Damals schien der Fall klar auf der Hand zu liegen: Díaz sagte umgehend eine geplante Veranstaltung ab, veröffentlichte ein Statement, in dem es hieß, er wolle "für seine Vergangenheit Verantwortung übernehmen" und trat vom Vorsitz des Pulitzer-Preis-Komitees zurück. Weder wies er die Vorwürfe zurück, noch stritt er die Schilderung des Übergriffs ab.

Seitdem wurden in hohem Takt Erfahrungen ausgetauscht und Untersuchungen in die Wege geleitet. Das "Massachusetts Institute of Technology" (MIT), für das Díaz als Professor für Kreatives Schreiben arbeitet, hat Kolleginnen und Studentinnen befragt. Zahlreiche Journalisten haben den Zeitgeist befragt. Und der Boston Globe hat jetzt auch Junot Díaz befragt, der sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal seit seinem Eingangsstatement persönlich äußerte. Und je weiter die Nachbereitung des Zwischenfalls in Sydney voranschritt, desto weniger blieb von der Geschichte übrig: Zuerst fiel die von Clemmons angekündigte Flut weiterer Frauen aus, die von Junot Díaz belästigt wurden und sich jetzt an die Öffentlichkeit wagen würden. Außer Clemmons meldeten sich nur zwei weitere Schriftstellerinnen, die allerdings von physischen Übergriffen gar nichts zu berichten wussten, sondern von Díaz lediglich grob behandelt worden waren.

Dann erklärte die Boston Review, für die Díaz als Literaturredakteur arbeitet, bei internen Nachforschungen kein Fehlverhalten festgestellt zu haben, weshalb Díaz dort seinen Job würde behalten können. Drei Redakteure des Magazins traten daraufhin aus Protest zurück. Und dann gab auch das MIT nach Abschluss seiner internen Untersuchung bekannt, auf nichts gestoßen zu sein, was einer weiteren Beschäftigung von Junot Díaz im Wege stünde.

In diese Gemengelage stößt nun die Geschichte des Boston Globe, in der Junot Díaz erklärt, er habe das verfängliche Statement damals unter Schock verfasst: "Ich habe eine Menge Mist geschrieben in meinem Leben, wie man es eben macht, wenn man Schriftsteller ist", sagte Díaz, "Aber dieses Statement ist ganz sicher das Schlimmste, was ich je geschrieben habe." In Wahrheit verhalte es sich so, dass es den Übergriff nie gegeben habe: "Ich habe Zinzi Clemmons nicht geküsst, es ist nicht passiert." Clemmons hingegen beharrt auf ihrer Version der Geschichte.

Viel bleibt davon allerdings nicht übrig. Aus dem anhebenden Skandal, der Giganten der amerikanischen Literaturwelt zu Fall bringen und Strukturen systematischen Machtmissbrauchs aufdecken würde, ist innerhalb weniger Wochen ein Kuss geworden, den es vielleicht gegeben hat. Als der Boston Globe Zinzi Clemmons bat, genauer zu beschreiben, welcher Natur der Kuss denn gewesen sei, wollte sie nicht bestätigen, auf den Mund geküsst worden zu sein. Felix Stephan

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