Amerikanische Literatur:Das Ungeheuer sitzt mit am Tisch

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Toxisches Paradox: In Adam Hasletts neuem Roman "Stellt euch vor, ich bin fort" kämpfen die Figuren verzweifelt um den Bestand ihrer Familie - von der sie ruiniert werden.

Von Christoph Schröder

Kurz vor Weihnachten treffen sie alle zusammen im Haus von Margaret: Michael und Alec, die beiden Söhne, und Celia, Margarets Tochter. Celia hat Paul mitgebracht, ihren Freund. Schon beim Essen im Restaurant kommt es zu Spannungen: Das Essen ist Margaret zu teuer, obwohl sie selbst es gar nicht bezahlen muss. Als dann die Rechnung kommt, wird Alecs Kreditkarte zurückgewiesen. Später sitzen sie am Abend im Wohnzimmer zusammen, tauschen die eine oder andere kleine Gehässigkeit aus. Den einen ist es zu warm im Haus, den anderen zu kalt. Und irgendwann, kurz bevor man zu Bett geht, sagt Paul den entscheidenden Satz: "Ihr seid alle verrückt." Und wahrscheinlich hat er damit sogar recht.

Der Musiknerd Michael ist in seiner Diskursverliebtheit ziemlich anstrengend

Adam Haslett unternimmt in seinem zweiten, in den USA hoch gelobten Roman einen ambitionierten Versuch. Er benutzt das Muster des klassischen Familienromans, um eben dieses Muster in seiner Struktur zu durchkreuzen und auszuhöhlen. Gleichzeitig baut Haslett einen erzählerischen Bogen über fünf Jahrzehnte hinweg auf und hat durchaus den Anspruch, Zeitgeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen zu transportieren.

Im Zentrum allerdings steht eine Krankheit. John und Margaret lernen sich zu Beginn der 1960er-Jahre in London auf einer Party kennen. Sie ist Amerikanerin, er stammt aus einer englischen Familie, in der Konventionen über allem stehen. Die beiden verlieben sich ineinander und beschließen zu heiraten. Als Margaret nach einem kurzen Aufenthalt in den USA zurück nach England kommt, ist John zunächst nicht aufzufinden. Johns Mutter klärt Margaret darüber auf, dass John an einer schweren Depression leide und sich in einer Klinik aufhalte. "Höchst unerfreulich", so nennt die Mutter die Erkrankung ihres Sohnes. Margaret trifft dennoch die schwerwiegende Entscheidung, John zu heiraten; die beiden bekommen drei Kinder: Michael, Celia und Alec.

Das ist die Vorgeschichte der eigentlichen Handlung, die Adam Haslett in zersplitterten Rückblenden aus Margarets Erinnerung heraus erzählt. Überhaupt leidet "Stellt euch vor, ich bin fort" keinesfalls an einem Mangel an technischer Versiertheit und kompositorischer Raffinesse. Haslett erzählt aus fünf Perspektiven, variiert permanent die Distanz zu seinen Figuren; kommt ihnen wechselweise sehr nahe, um sich im darauf folgenden Kapitel herauszuzoomen und das Geschehen aus der Vogelperspektive zu kommentieren. Das wirkt stellenweise fast ein wenig zu kalkuliert, ist aber immer dann effektiv, wenn es Haslett gelingt, die Depression als Daseinsurgrund aller seiner Figuren darzustellen, ohne dabei plakativ zu werden.

Dass die Geschichte mit einem katastrophischen Ereignis endet, weiß man von Beginn an, denn der Roman beginnt damit, dass Alec verzweifelt durch den Schnee rennt, auf der Suche nach Hilfe. Es muss etwas mit Michael passiert sein. Doch unmittelbar danach breitet Haslett die Schilderung eines Familienurlaubs in den 1970er-Jahren aus: Der Aufbruch der fünfköpfigen Familie mit dem dazugehörigen Chaos, das komplizierte Binnenverhältnis der Geschwister, die Neckereien, das Ankommen im Ferienhaus in Neu-England. Und dazwischen eingestreut kleine Anzeichen, die sich erst im Nachhinein als Warnsignale deuten lassen. Johns Antriebslosigkeit. Seine Unfähigkeit, in bestimmten Situationen adäquat zu reagieren. Seine Weigerung, Konflikte anzunehmen. Seine berufliche Unstetigkeit, die dazu führt, dass die Familie zwischen England und Boston pendeln muss und auch geografisch keinen Halt findet.

Die Depression hat die gesamte Familie im Griff. Sie hat sich hineingebohrt in das Denken, Empfinden und Handeln aller. Die entscheidenden Ereignisse, auch das ist immer wieder klug und geschickt in Szene gesetzt, werden mit der größtmöglichen Beiläufigkeit erzählt. "Stellt euch vor, ich bin fort", sagt John bei einem Bootsausflug zu Celia und Alec, überlässt ihnen das Ruder und stellt sich schlafend. Nicht allzu lange darauf wird John wirklich fort sein, und seine Familie muss mit dem Trauma des Verschwindens zurechtkommen.

So überzeugend der Roman im Kern gedacht ist, so weitschweifig und redundant wird er allerdings immer dann, wenn es darum geht, die Lebenswege von Michael, Alec und Celia durch die Jahrzehnte hinweg zu begleiten. Während Haslett zu Margaret stets in einer angenehmen, fast schwebenden Halbdistanz bleibt, walzt er die Alltagsprobleme der drei Kinder in aller Ausführlichkeit und auch ohne Furcht vor Stereotypen aus. Eine Neigung, die sich schon in seinem Debüt "Union Atlantic" bemerkbar machte.

Das Ungeheuer, so heißt im Roman die Depression, hat Celia und Alec zwar nicht angefallen, doch sind beide weit entfernt von einer gradlinigen Biografie. Celia flieht an die Westküste und arbeitet mit gestrauchelten Jugendlichen, Alec steht als Reporter im Printjournalismus auf unsicheren Beinen. Michael schließlich entwickelt sich zu einem lebensuntüchtigen Musiknerd, der das Leid aller Opfer von Kolonialismus und Rassismus auf sich zu nehmen bereit ist. In ihm kondensiert sich das dunkle, pathologische Familienerbe. In all seiner Verquastheit und Diskursverliebtheit mag er authentisch gezeichnet sein - doch ist leider sein verqueres Gedankenuniversum oft auch eine ziemlich langweilige Lektüre.

"Stellt euch vor, ich bin fort" ist die Literatur gewordene Vorführung einer paradoxen Zwangslage, ein Roman, der von Menschen erzählt, die verzweifelt um die Aufrechterhaltung der Institution Familie kämpfen, obwohl es eben diese Institution ist, die sie auffrisst. Es ist das Buch einer toxischen Verwandtschaft, eines zersetzenden Giftes mit einem, auch das muss gesagt werden, leicht süßlich parfümierten Ausgang.

© SZ vom 26.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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