Amerikanische Literatur:Bis zum Morgenrot

Joshua Cohen lässt einen Stargeiger über Judentum, Musik, die alte und die neue Welt monologisieren. Sein Roman "Solo für Schneidermann" ist eine ebenso witzige wie aberwitzige Überforderung.

Von Burkhard Müller

Der berühmteste Geigenvirtuose der Welt soll in der New Yorker Carnegie Hall vor den gespannten Ohren eines auserwählten Publikums, zu dem auch seine sämtliche Weggefährten gehören, von seinen fünf oder sechs Ex-Frauen über den banausischen Mäzen Rothstein bis hin zu seiner Proktologin, eine Kadenz zum Besten geben, eine besonders schwierige Art von improvisiertem Solo. "~ Musik ~", so beginnt der Roman, um fortzufahren: "Guten Abend, meine Damen und Herren!", in der Notierunsgsweise einer Partitur, mit der Angabe "Sehr trotzig", einem langen Legato-Bogen und dem Hinweis "p < f", was bedeutet, dass die Lautstärke anschwillt.

Es erwartet den Leser, so viel steht nach diesem Anfang fest, ein musikalisches Erlebnis, mag es auch zur Gänze in Literatur aufgelöst sein. Statt zu spielen, erklärt Laster, wolle er lieber eine Ansprache halten, eine Rede über seinen kürzlich verschollenen Freund Schneidermann, den unfassbar genialen Komponisten. Gegen das Ende zu gibt es zarte Hinweise aufs einsetzende Morgenrot, aber bei 500 Seiten Text, die Seite zu rund drei Minuten gerechnet, muss es sich wohl um das Morgenrot schon des übernächsten Tages handeln. Laster verlangt einiges von seinem Publikum, und Joshua Cohen, Verfasser von "Solo für Schneidermann", nicht weniger von seinen Lesern.

Es geht um Judentum, Geigenspiel und um Schönheit und Graus des alten Europa. Ihm sind sie beide entronnen, der etwa 80-jährige Laster glimpflich und noch als Kind, der hoch in den Neunzigern stehende Schneidermann als Überlebender der Vernichtungslager. Davon haben sich tiefe Spuren in Schneidermanns Habitus eingegraben. Anfangs besitzen sie ihren Reiz als Spleen, dann beginnen sie durch ihre Insistenz zu nerven, um sich erst sehr allmählich als Zeichen einer tragischen Zerrüttung zu erkennen zu geben. Schneidermann, der so kahl ist, dass man nicht weiß, wo die Glatze aufhört und der Himmel anfängt, trägt eine aus dem Müll gezogene Beethoven-Perücke, die er mit einem komplizierten Seilzugmechanismus an seinem Kinn befestigt.

Die deutsche Übersetzung verleiht den Protagonisten Macht über die Sprache ihrer Peiniger

Schneidermann wäscht sich nie, er ist krankhaft geizig, seine Schuhe, immer viel zu groß, bezieht er von der Heilsarmee, und wenn er sie unterwegs verliert, was er ständig tut, muss Laster sie suchen gehen. Herzstück der Freundschaft beider bildet der gemeinsame Besuch von Kino-Matineen. Alles, buchstäblich alles, was in Amerika seit 1950 auf die Leinwand kam, haben sie gemeinsam gesehen.

Es ist viel mehr als bloß eine Freundschaft, was sie verbindet. Schneidermann hatte im Budapest des Zweiten Weltkriegs Laster vom Konservatorium weg als seinen Meisterschüler angenommen und wurde ihm zum geistigen, zum wahren Vater, eine Beziehung, die unverbrüchlicher und tiefer ist als alles, was dieser Egomane mit seinen geldgierigen Scheidungswitwen oder den so zahllosen wie undankbaren Kindern und Enkeln teilt. Dass diese unter allerlei skurrilen Verkleidungen beschwiegene Liebe sich als der Kern des Ganzen nur so langsam erschließt, darin besteht der verschämte Charme dieses Buchs, das sonst nach allen Seiten seine Stacheln ausfährt. Es kennt keinen Einhalt. Den Punkt, die Pause verwendet es fast überhaupt nicht.

Seite um Seite schwirren die Kommas wie Achtelnoten, selbst eine musikalische Gliederung in Sätze nach Tempo und Stimmung, die sich wohl angeboten hätte, verschmäht es und fegt prestissimo in einem fort dahin. Es hört sich so an: "sein (Schneidermanns) Libretto handelt von einem ausgeleierten, wenn nicht schon total abgedroschenen jüdischen Thema, wobei das natürlich alle Themen sind und absolut alles jüdisch ist, wenn man zu dem Typ Jude gehört, aber Sie werden verstehen, dass wir - wie Sie - auch damals, was zumindest den meisten von Ihnen hier wie eine Ewigkeit her vorkommen muss, von einem sinaihohen Gipfel der Weltkultur herab die gesamte Schtetl-Ästhetik ausschlachteten, genau wie der schmalzige Chagall und später der Nobel-Singer, um damit unser eigenes Süppchen zu kochen, unseren eigenen Aberglauben auf die Schippe zu nehmen, derweil wir die Gojim als Moderne überholten, ihren Nationalismus überholten oder zumindest verurteilten, während wir uns an unseren klammerten (. . .)"

Nur gewaltsam, wie wenn man versucht, bei Sturm eine Tür zuzudrücken, schaffte es der Rezensent, diese Passage zu zitierbarer Länge abzuschneiden. Wie viel steckt in diesem kurzen Fetzen! Zunächst ein bemerkenswerter Gedanke über das sich wandelnde kulturelle Verhältnis des Judentums zu seinen Gastvölkern, sodann ein verblüffend hartes Urteil über Chagall, schließlich streift der Schatten des Verdachts den allseits hochgeachteten Isaac Bashevis Singer. Das alles schießt vorüber im Eilzugtempo, so schnell, dass man mit dem Hinterherdenken gar nicht hinterher kommt.

Auch sonst braucht der Leser einiges, um mitzuhalten. Er sollte bewandert sein in der Lyrik von Rilke und Celan, das stellt eine Art Minimum für den 1980 geborenen, kulturell ambitionierten New Yorker Joshua Cohen dar. Ferner sollte er eine Mitzwa sicher von einer Mikwe unterscheiden können und den Strymon vom Styx. Dass ein Foyer aus prokonnesischem Cipollinomarmor besteht, darf ihn nicht beirren. Er muss Geduld haben für musikalische Spezialdiskurse, "vergessen Sie Tartini, vergessen Sie Paganini!", problematisch ist die Quadrupelfuge, Skepsis angebracht gegen Heifetz' "eingedostes Konzerngeträller", wobei man sich fragt, ob der Konzern hier vielleicht ein Druckfehler für Konzert ist oder Laster, der alte Lästerer, wirklich dermaßen zynisch drauf. Der Zynismus bildet die Klippe des Buchs, an der es ziemlich knapp vorbeisteuert.

Das jüdische Privileg, Judenwitze zu machen, ist hier erweitert zum Universal-Ressentiment. "Dinge, derentwegen er (Schneidermann) sich den Klavierdeckel auf die Kehle knallte: Asiaten, Asiaten, angsterfüllte Homosexuelle, Gewichte hebende Asiaten, alleinstehende alte Frauen, die mehr als eine und manchmal, je nachdem, nur eine Katze hatten, Juden, Juden, Juden, Frauen, die die amerikanische Sprache sprachen, Frauen, die Deodorants benutzten, Frauen, Philosophiestudenten, sexuell erfüllte Querschnittsgelähmte", und so schnell kommt das an kein Ende. Aber am meisten geht es doch gegen Asiaten, jene Rasse, die die europäische Musik-Tradition durch seelenlose Routine an sich reiße - ob Hiroshima wirklich ein Fehler gewesen sei? Wer das für inakzeptabel ansieht, dem tritt andernorts in Nebensätzen (dieses Buch besteht ausschließlich aus Nebensätzen) ein Schneidermann entgegen, der mitansehen muss, wie die Nazis seine Frau erschlagen (seine "damalige Frau", wie der seriell monogame Erzähler erläutert), und teils vorher, teils nachher alle seine Angehörigen.

Auch er selbst fällt schließlich doch noch den Nazis zum Opfer, indirekt und mit einer Verzögerung von siebzig Jahren. Die letzte Matinee, die sich Laster und Schneidermann ansehen, ist "Schindlers Liste". Schneidermann steht mittendrin auf, empört sich, während die anderen Besucher ihn niederzischen: "Die Farbe fehlt! Der ist schwarzweiß! Diebe!" und verlangt sein Geld zurück. Dann steht er auf und ward nicht mehr gesehen, ein "Luftmensch", dem es an jeder Lebensgrundlage fehlt, vielleicht aber auch der Messias.

Es ist ein witziges, ein aberwitziges, ein emotional sehr starkes Buch. Ein Buch jedoch, das die Bereitschaft zu einer ununterbrochen hochintensiven Lektüre voraussetzt, wie sie wohl nur die Wenigsten aufbringen. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man es als ein Werk für Übersetzer bezeichnet, die immer die geduldigsten und aufmerksamsten Leser bleiben werden.

Ulrich Blumenbach hat es geschafft, den angespannten Rhythmus dieses Buchs auf bewundernswerte Weise nachzubilden - und darüber hinaus für diesen Kosmos aus Anspielungen, Bezügen und Kalauern Dinge vollbracht, die man eigentlich für unmöglich hält. Nur ein paar Beispiele: "Frau Nr. sechs ist ein Sopran. Und jeder Tenor ist Bass erstaunt, dass sie nie Alt wird." Wie das wohl im Original ging? "(. . .) selbst die Harfenistin, die ich liebe, von der ich träume, die ich aber noch nicht gepflückt habe, sie ist von hinnen und heimgewelkt" - da wird einem diese ambulante Blume aufs Plastischste vor Augen gerückt. "(. . .) ich bin Schneidermanns zurückgebliebenes, masturbierendes Erfüllungsäffchen (. . .)" Das "Erfüllungsäffchen" nutzt Möglichkeiten der Verkleinerung und der Zusammensetzung von Substantiven, die es so im Englischen jedenfalls nicht gibt. Kurzum, dieses Buch über zwei alte Europäer, die den Klauen der Deutschen mit knapper Not entgangen sind, kehrt in ein Deutsch ein, dass es eine ebenso zweideutige wie helle Freude ist.

Joshua Cohen: Solo für Schneidermann. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2016, 536 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: