American Diary:Explosionen im Kopf

American Diary: Und weiter geht die Reise: die BR-Symphoniker mit ihrem Chef-Steward Mariss Jansons im Flieger.

Und weiter geht die Reise: die BR-Symphoniker mit ihrem Chef-Steward Mariss Jansons im Flieger.

(Foto: Peter Meisel)

Das BR-Symphonieorchester auf USA-Reise: ein Konzertsaal für 3500 Zuhörer und saufende Studenten

Von Egbert Tholl, Ann Arbor

Bei der Ankunft in Ann Arbor hat der hinreißende Arzt, offenbar ein begnadeter Chiropraktiker, erst einmal viel damit zu tun, Teile der musizierenden Körper wieder in eine Fasson zu bringen, die der am Abend auszuübenden Tätigkeit förderlich ist. Sechs Stunden Reise, höllisch früher Aufbruch in Montreal, Bus, Flugzeug - und dann wird es lustig. Die Maschine landet in Ypsilanti, das ist in der Nähe von Detroit, und bleibt auf dem Rollfeld stehen. Warten. Dann fährt sie ein bisschen auf dem Flughafengelände herum, bis an dessen letztes Ende und bleibt wieder stehen. Warten. Auf den Zoll. Ist der dann mal da gewesen, so nach einer Stunde, kommen die Busse, die die BRSO-Truppe ins Hotel bringen sollen. Die bleiben einfach neben der Boeing stehen, man krabbelt eine wacklige Gangway hinunter und aufs Rollfeld hinaus, holt sich seinen Koffer aus dem Gepäckhaufen neben der Maschine und mit ihm zum Bus. Kein Terminal, keine Behörde, nichts.

Ann Arbor selbst besteht aus der Uni und kleinen Häuschen drumherum, auf deren Veranden die Studenten - Samstagnachmittag - mit Inbrunst versuchen, einen Roman von Tom Wolfe ("Charlotte Simmons") nachzustellen, will heißen: Saufen und geil ausschauen, obwohl man nicht schön ist. Wobei der Ort im Kern ganz hübsch ist, neogotischer Campus mit einer Art Kathedrale in der Mitte, die sich bei näherer Betrachtung als der Bibliothekslesesaal herausstellt - Harry Potter. Weshalb das BRSO hier ist, ist dann schnell klar, wenn man den Konzertsaal sieht: Der heißt Hill Auditorium, schaut aus, als habe man ein Riesengebäude um eine Kurparkkonzertmuschel herum gebaut, fasst 3500 Menschen und wurde vor gut 100 Jahren eröffnet - damals hatten 4500 Zuhörer darin Platz, später wurde er verkleinert. Ann Arbor hat 110 000 Einwohner.

Leider ist die Mischung des Publikums nicht ganz so gelungen wie in Chapel Hill, vermutlich, weil die meisten jungen Leute zu Konzertbeginn bereits besoffen irgendwo in der Stadt herumlungern. Dennoch erinnert die Atmosphäre an die Proms in London, wozu auch die Akustik ihren Teil beiträgt, die ist kurz gesagt vogelwild, extrem inhomogen, aber mit Wumms. In den allerletzten Reihen etwa hört man die Kontrabässe gar nicht, aber die Pauke klingt, als explodiere etwas im eigenen Schädel. Das führt insgesamt zu einem herzhaften Musikerlebnis, wobei Dvořáks Achte erst in ihren letzten beiden Sätzen das richtige Stück am richtigen Ort ist, alles davor ist zu subtil. Aber was man hier an Einzelaspekten hören kann, da eine Blechbläserspinnerei, dort eine verlorene Flöte, ist für sich stets sensationell. Der Saal zerteilt das Orchester, aber klingt halt, je nachdem, wo man Laut gibt, umwerfend. An manchen Stellen. An einer besonders: Angeblich kann man an einem gewissen Punkt auf dem Podium bis in den letzten Winkel eine Stecknadel fallen hören, wie im Theater von Epidauros.

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