"Ameisengesellschaften" von Niels Werber:Einhelligkeit ohne Kommandos

"A Bug's Life" aus den Pixar-Studios

Diese Ameisen, sie faszinieren - auch in "A Bug's Life" aus den Pixar-Studios von 1998.

(Foto: Walt Disney)

Literaturprofessor Niels Werber hat ein äußerst erhellendes Buch über Ameisen geschrieben. Es geht darin auch um menschliche Gesellschaft und Geschichte. Denn kaum ein anderes Wesen ist uns so ähnlich und doch so fremd.

Von Burkhard Müller

Bill Gates, Chef von Microsoft, und Michael Eisner, Chef von Disney, fliegen zusammen mit dem Jetpack hoch über der Erde dahin. "Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben", merkt Eisner an. Gates korrigiert ihn: "Nein, Michael, es sind Ameisen."

Mit dieser kleinen Episode aus der Comic-Serie "Family Guy" beginnt Niels Werber, Professor für Neuere Deutsche Literatur in Siegen, sein Buch "Ameisengesellschaften - Eine Faszinationsgeschichte". Sie dient natürlich zunächst einmal dazu, die Blasiertheit der beiden Milliardäre dem befreienden Lachen auszuliefern. Aber darüber hinaus macht sie deutlich, wie sehr es beim distanzierenden Blick auf die Menschheit heute die Ameisen sind, die sich aufdrängen - und dass es sich bei ihnen keineswegs bloß um eine Metapher handelt, um einen vorgegebenen Tatbestand nach Belieben zu illustrieren. Ihr Bild, einmal eingelassen, reißt das Denken mit an Orte, über die es keine Kontrolle mehr hat.

Es entsteht etwas, das Werber (mit einem vielleicht etwas zu harmlosen Wort) eine "Passage" nennt: eine nahezu unwillkürliche Kurzschlussverbindung zweier an sich weit getrennter Wissensgebiete und Denkformen, in diesem Fall der Entomologie (der Lehre von den Insekten) und den Disziplinen, die vom Menschen als sozialem, politischem und ökonomischem Wesen handeln. Werber legt seine "Faszinationsgeschichte" darum zweigleisig an; immer hat er die Naturwissenschaftler einerseits, die Philosophen, Soziologen, Belletristen und Filmemacher andererseits zugleich im Blick. Darum sieht er, um es zugespitzt auszudrücken, sehr viel genauer, was diese Ameisen insgesamt treiben, als diese es je für sich selbst könnten.

Faschisten, Sozialisten, Imperialisten, Altruisten, Anarchisten

Werber erkennt das Neue, das der altbekannten Ameise in der Moderne zugewachsen ist. Von jeher ist die Menschheit, die sich nach Parallelen für ihre eigenen Strukturen umsieht, notwendig bei den sozialen Insekten herausgekommen, weil alle anderen Tiere eben nur sehr viel schlichtere Organisationsformen haben. Doch frühere Zeitalter hielten sich ans gemächlichere Muster der Honigbiene, die man symbolisch oder allegorisch interpretierte, um ihren Fleiß, ihren Gehorsam und ähnliche Tugenden dem Menschen als vorbildlich hinzustellen.

Mit der Ameise, deren soziale Dimension bis weit ins 19. Jahrhundert erstaunlicherweise so gut wie gar nicht in den Blick kam, kommt ein weit intensiveres Paradigma in den Mittelpunkt des Interesses. Was man lange gar nicht sah, besitzt auf einmal die Unwiderleglichkeit der Evidenz. Zu den Stärken von Werbers Buch gehört die Darstellung, wie im wimmelnden Augenschein gestaltensehend die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Modelle wahrgenommen wurden. Faschisten, Sozialisten, Imperialisten, Altruisten, Anarchisten, alle kommen sie bei den Ameisen auf ihre Rechnung.

Sie sehen es doch - warum da noch viel herumdeuten? Dabei bleibt das an sich augenfälligste Merkmal der Ameisenstaaten, nämlich dass sie die erforderliche Einhelligkeit ohne die Vermittlung von Zeichen und Kommandos erzielen (und ohne die für Menschengemeinschaften typischen Reibungsverluste), lange ohne Folgen für die kollektive Imagination. Das ändert sich erst, als die Menschheit meint, ein genaues Äquivalent gefunden zu haben, und zwar mit dem Internet: Auf einmal rühmt man den kleinen Tieren eine "Schwarmintelligenz" nach, die man auch gern hätte. Dann dürfte man, trotz der Erfahrung der eigenen Beschränktheit, dennoch die Sicherheit genießen, beim einzig Richtigen jedenfalls mitzumischen.

Außer der Ameise haben wir keinen Spiegel

Myrmekologen oder Ameisenforscher gibt es nach Werbers Schätzung nur rund 500 auf der Welt, in markantem Gegensatz zu den etwa zehn Billiarden Ameisen (oder 1,5 Millionen Exemplaren pro Kopf der menschlichen Erdbevölkerung). Trotzdem vermochten sie es, die zeitgenössischen Debatten der Biologie - und der Gesellschaft überhaupt - in bemerkenswertem Maß zu prägen. Wer "Ameise" sagt, weiß, dass der klassisch darwinistische Satz, die Evolution setze am Einzelnen an, erheblich zu modifizieren ist. Doch ob dabei kin selection, also die Begünstigung von genetischen Verwandten, oder group selection, die Auswahl des gemeinsam agierenden Zweckverbands, zum Zuge kommt, das stellt die gegenwärtig am heißesten umstrittene Frage der Evolutionstheorie dar. (Davon hängt es zum Beispiel ab, ob man eine Nation als Abstammungs- oder als Interessengemeinschaft bestimmen will.)

E. O. Wilson, Nestor der Myrmekologie und nebst seinem Todfeind Richard Dawkins gegenwärtig berühmtester Biologe der Welt, hat neuerdings für die group selection optiert und damit für große Aufregung gesorgt. Der Arroganz und Blindheit, mit der Wilson fordert, die Gesellschaft und die Menschheit insgesamt müsse sich seine an den Ameisen gewonnenen Überzeugungen auf direktem Weg zu eigen machen, hat Werber ein besonders erhellendes Kapitel gewidmet.

Dieses Buch mit seinem nur scheinbar entlegenen Gegenstand ist wahrhaft auf der Höhe der Zeit. Außer der Ameise haben wir keinen Spiegel, in dem wir uns als Wesen der Masse und des Kollektivs betrachten können; und selbst die kosmischen Aliens in den Science-Fiction-Filmen vermögen, wie Werber sehr schön zeigt, der Phantasie kein höheres Maß an fremder Nähe zu liefern, als wir es bereits an unseren winzigen Nachbarn besitzen.

Beunruhigendes Gleichnis

Wie alle Spiegel hat auch dieser die starke Tendenz, gerade in seiner Objektivität hauptsächlich demjenigen zu gleichen, der hineinguckt - ein Paradox, das den positivistischen Forschern zu entgehen pflegt. Werbers so origineller wie fruchtbarer Doppelzugriff hat die Kraft, dieses Paradox durchschaubar zu machen. Auf die Anmaßung der Naturwissenschaften, die sich als normative Instanz aller Lebensbereiche empfehlen wollen, antwortet es mit einer Reflexion, die die Voraussetzungen des scheinbar Voraussetzungslosen ans Licht hebt. Dass es dabei auch sehr spannend, unterhaltsam und mit großer stilistischer Souveränität zugeht, sodass man Werbers Buch, für ein wissenschaftliches Werk gewiss nicht selbstverständlich, auch als Laie bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen mag, sei nur am Rand erwähnt.

Nur eines hat der Rezensent vermisst: Zu der nie allzuweit vom Gruseln entfernten Faszination, die ein Ameisenhaufen auslöst, gehört es auch, dass sein Anblick das Individuum nicht nur in Richtung nach außen und oben, zur Gesellschaft hin, fragwürdig macht, sondern auf eine noch weit intimere Weise - an diesem stummen und niemals missglückenden Zusammenspiel der vielen kleinen Einheiten zum Ganzen eines Superorganismus haben wir ein beunruhigendes Gleichnis von dem, was auch in unserem eigenen, aus Milliarden von Zellen zusammengesetzten Körper vor sich geht. Auch ein Mensch ist in diesem Sinn ein Schwarm, sinnreich verbunden zweifellos, doch möglicherweise viel lockerer, als es sich mit seinem naiven Selbstgefühl vereinbaren lässt. Spätestens wenn man merkt, wie einem die ersten Ameisen im Hosenbein hochkrabbeln, tritt man gewöhnlich mit allen Zeichen der Panik vom Haufen zurück.

Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte. S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2013. 475 S., 24,99 Euro.

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