"Alois Nebel" im Kino:Nacht und Nebel

Kinostarts - 'Alois Nebel'

Dieser Alois Nebel ist ein wenig von allem: Ein Phantom aus der Vergangenheit, ein Verrückter und eine Figur, in die man alles und jeden hineinprojizieren darf.

(Foto: dpa)

Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei ist ein heikles Thema. Der Animationsfilm hat bewiesen, dass er auch schweren Stoffen gerecht werden kann - doch die Verfilmung der Graphic Novel "Alois Nebel" ist zwar schick, aber zu beliebig.

Von Philipp Stadelmaier

Wer ist dieser Mann, der im Herbst 1989 im ehemaligen Sudentenland, im Grenzgebiet zwischen der Tschechoslowakei und Polen, als Bahnhofsvorsteher seinen Dienst tut? Ein Phantom aus der Vergangenheit, ein Verrückter? Oder ist dieser Alois Nebel, wie das Presseheft erklärt, einfach ein Anagramm für "Leben", also eine Metapher dafür, dass man in diese Figur alles und jeden hineinprojizieren darf?

Alois, der einmal von sich sagt, er sähe oft Nebel, ist sicher ein wenig von allem. Eine traurige Figur, die durch die viereckige Hornbrille oft ins Leere zu starren scheint und äußerst wortkarg ist. Er ist die Hauptfigur einer Graphic Novel des Tschechen Jaroslav Rudis, nun verfilmt von Tomáš Luňák: Nebel, das ist weniger ein Charakter als eine Comicfigur, die nun in diesen Animationsfilm in kontrastreichem Schwarz-Weiß zum Leben erwacht, ein Bildwesen aus dunkeln und hellen Schattierungen.

Denn Nebel, der am Bahnhof dieses düsteren, trüb-verregneten Kaffs namens Bílý Potok dahinvegetiert, in einer Welt, in der höchstens die Bahnhofslaternen nervös in einem rhythmusgestörten Stromkreislauf flackern, und deren ewige Nacht nur gelegentlich durch die herannahenden Scheinwerfer der Züge erhellt wird, die aus dem schwarzen Nichts kommen, um sogleich wieder in ihm zu verschwinden - Nebel hört also Stimmen. Und in gleißenden Licht-Flashs, in weiß flackernden Wänden perforieren schlimme Erinnerungen an früher seine digitalen Netzhäute.

Um ihn herum schwadronieren wie gierige Bluthunde die letzten Epigonen des Sowjetregimes: Alkoholschmuggler, ehemalige Milizangehörige, korrupte Militärs. Es dauert nicht lang, bis ihn ein fieser Bahnhofs-Kollege in eine Psychiatrie einliefern lässt, um sich seinen Job zu sichern. Oder doch eher, weil er, der wie besessen vom Studium alter Fahrpläne ist, sich im meditativen Herabrattern der minutiös getakteten Zwischenhalte jeden Bezug zur Gegenwart verloren hat, eine ganz andere Geschichte heraufbeschwört?

Bald beginnt Nebels Odyssee. Und er irrt dabei nicht nur zwischen der Psychiatrie, dem Prager Hauptbahnhof und der Provinz hin und her. Sondern auch zwischen zwei historischen Zäsuren: dem Fall der eisernen Vorhangs und dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als aus der Gegend, in der Nebel aufwuchs und noch fünfzig Jahre später Dienst tut, Sudetendeutsche vertrieben wurden.

Mit der Animation in die Lücke

Bis heute ist die Episode in Deutschland ebenso wie in Tschechien stark aufgeladen: Durch die teils grausamen Rache der Tschechoslowaken an den Deutschen, und durch die Gräuel der Nazis, die all das erst ausgelöst hatten.

Gerade im Animationsfilm ein solches sich entziehendes, verdrängtes und vergessenes, moralisch ambivalentes Ereignis zu verarbeiten, das hatte vor einigen Jahren schon der israelische Filmemacher Ari Folman in seinem "Waltz with Bashir" getan. Was Nebel beim Anblick der Züge entgegenkommt, kehrte bei Folman in Albträumen in Form eines Hunderudels zurück: seine Mitschuld als israelischer Soldat an den Massakern von Sabra und Schatila, im ersten Libanonkrieg.

Die moralische Ambiguität hatte Folman dabei direkt mit einer ästhetischen gekoppelt. In dem die Erinnerung, eine Animation, also immer erst noch zu reanimieren war, entzog ihr Folman den Punkt, an dem sie je auf etwas Wirkliches hätte treffen können. Folglich war auch "Waltz" ein reiner Animationsfilm, dessen Bilder von dokumentarischen Aufnahmen nur inspiriert waren. Die Animation wurde selbst zu einem Dokument - für eine Lücke, einen Riss, einen Entzug.

Gerade da schön, wenn es geheimnisvoll wird

"Alois Nebel" könnte in dieser Richtung noch weiter gehen - als Verfilmung einer Graphic Novel scheint der Film unabhängig von allem Dokumentarischen. Und doch klebt er zu sehr an dem Wirklichen, an das er erinnern will. Hergestellt im Rotoskopie-Verfahren, wurden hier Live-Action-Aufnahmen lediglich im expressiven schwarz-weißen Comic-Look der Vorlage überzeichnet. Und das merkt man.

Folman hatte gezeigt, dass es Erinnerung nur gibt, wo sie ihren Gegenstand verpasst, dass es Wirkliches nur gibt, wo es verfehlt wird. Alles andere ist Ideologie, austauschbare Meinung - oder, wie in "Alois Nebel", eine Frage des Stils. Eine Frage des Filters, genauer gesagt, und damit einer schicken, aber willkürlich gewählten Brille, die der Zuschauer aufsetzen kann, um im Nebel der Geschichte alles und nichts zu erkennen.

So übermalt und verdeckt hier leider das stilisierte Design des "schwierigen Themas" die Schwierigkeiten der Erinnerung selbst. Das zentrale Trauma wird allzu schnell enthüllt. Dennoch hat der Film gerade da seine Schönheiten, wo seine schöne Bilderkruste bröckelt: In Blätterstürmen, im tanzenden Staub, im glänzenden Schnee, in Vogelschwärmen, Feuerwerken und Wasserstrudeln im Wildbach. Überall dort, wo das Wirkliche zu schnell, zu diffus, wo die Erinnerung zu verstreut wird, um einfach abgezeichnet zu werden, und wo etwas mehr Animation notwendig wird - und etwas mehr Geheimnis.

Alois Nebel, CZ/D 2011 - Regie: Tomás Luňák, Buch: Jaroslav Rudis, Jaromír 99. Kamera: Jan Strítezký. Mit Miroslav Krobot. Neue Visionen, 84 Min.

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