Alice Munro:Nobelpreis im Vorgarten

Schriftstellerin Alice Munro

Schriftstellerin Alice Munro

(Foto: dpa)

Alice Munro ist die dritte Nobelpreisträgerin in wenigen Jahren, die in Stockholm nicht mehr selbst das Wort ergreifen kann oder mag. Zu ihrer Auszeichnung äußert sie sich in einem Videointerview - und macht das Beste draus.

Von Burkhard Müller

Wer den Nobelpreis für Literatur erhält, von dem wird erwartet, dass er in Stockholm eine "Nobel Lecture" hält. Die diesjährige Preisträgerin Alice Munro zog es allerdings vor, sich daheim in Kanada interviewen zu lassen, in ihrer Wohnung im Erdgeschoss, an deren kleinem Vorgarten bei laufender Kamera die Autos vorbeifuhren. Sehr luxuriös lebt sie jedenfalls nicht.

Ein Interview bietet den Vorteil größerer Spontaneität und Intimität, und Munro machte das Beste daraus. Trotz ihres hohen Alters verfügt sie über einen geradezu mädchenhaften Charme, und falls sie sich über den Interviewer geärgert haben sollte, dann gebot ihr das Taktgefühl, es sich nicht anmerken zu lassen. Grund für solchen Ärger hätte sie durchaus gehabt. Dass ihr recht phantasielose Fragen gestellt wurden, Fragen vom Typ "Haben Sie je daran gedacht, den Nobelpreis zu gewinnen?", mochte noch hingehen. "Zögern Sie jemals bei dem, was Sie schreiben?" "All the time! All the time!", und dazu lacht sie auf bezaubernde Weise.

Reduziert auf die weibliche Perspektive

Was sich diesem schwedischen Journalisten aber schwer verzeihen lässt: Hartnäckig drängte er Alice Munro in die Richtung einer dezidiert weiblichen Literatur. Was die weibliche Perspektive für sie bedeute? Na, sie sei eben eine Frau. Ob sie speziell an Frauen als ihr Publikum denke? Nein, eigentlich an Männer genauso, nur dass Frauen eben generell mehr lesen. Ob sie sich als Feministin fühle? Sie habe nicht einmal das Wort gekannt, und tatsächlich sei es damals in Kanada für schreibende Frauen sogar leichter gewesen als für schreibende Männer. Doch es half ihr nichts. Rigoros reduzierte das Gegenüber Munros weltliterarische Leistung auf ihr Geschlecht.

Aber natürlich tat Alice Munro daneben doch das, was Nobelpreisgewinner an dieser Stelle immer tun: Sie erzählte die Gründungsanekdote ihrer Autorenexistenz. Für sie hatte die kleine Seejungfrau von Hans Christian Andersen die Schlüsselrolle gespielt. Es hätte der armen Nixe für das, was sie litt, ein viel besseres Ende zugestanden! Dieses Happy End lieferte das Kind Alice also nach und ließ sie ihren Prinzen kriegen: ihre erste Story.

"Glaub nie, dass du besonders schlau bist!"

Im Verlauf des halbstündigen Videos widersteht man allerdings schwer dem Eindruck, es sei vielleicht ein anderes Märchen von Andersen für sie noch wichtiger gewesen: das vom hässlichen jungen Entlein. Nur für sich selbst schrieb sie anfangs und verhehlte es, so gut sie konnte, denn die wichtigste Lehre, die man ihr in der Jugend mitgab, lautete: "Glaub nie, dass du besonders schlau bist!" Und wer schreibt, macht sich in dieser Hinsicht ausgesprochen verdächtig. Da sie sonst niemanden kannte, der schrieb, hatte sie keinen Maßstab dafür, was das eigentlich als soziale Rolle bedeutet: Schreiben. Dass sie von Beruf Hausfrau war, erleichterte ihr beides, das Schreiben und die Geheimhaltung (oder mindestens das fortgesetzte Understatement). Und niemals hat sie das Verlangen verspürt, die kanadische Provinz zu verlassen, wo sie immer gelebt hat und wo all ihre Geschichten spielen.

Aber dann eröffnete sie doch, zusammen mit ihrem Mann, der sie sehr unterstützte, ihre eigene Buchhandlung. Die gibt es heute noch, und sie ist gar nicht so klein. Man merkt es Alice Munro, wenn sie zwischen den Regalen herumstreunt und vor der Kamera Bücher signiert, immer noch an, dass ihr dieses Dasein als Buchhändlerin, das Wort in seinem schönen altmodischen Sinn verstanden, immer noch sehr gefällt. Das ist die Öffentlichkeit, die sie sucht.

Was ihr weniger zuzusagen scheint, ist die Art Öffentlichkeit, die die schwedische Akademie ihr zu bieten hat. Nach Doris Lessing und Thomas Tranströmer ist Alice Munro in wenigen Jahren der dritte Empfänger des Nobelpreises, der in Stockholm nicht mehr selbst das Wort ergreifen kann oder mag, sondern sich irgendwie vertreten lässt. Vor einem Jahr hat sie das Schreiben endgültig aufgegeben. Vielleicht sollte die Akademie sich mal überlegen, das Alter ihrer Laureaten so weit zu senken, dass die Ehrung sie noch dicht bei ihrem Werk erwischt und sie diese mit einigermaßen frischem Vergnügen selbst in Empfang nehmen können.

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