Albumkritik:Helene Fischer verkauft das perfideste Stück Pop seit Jahren

Helene Fischer

"Hier wird gelebt!" Sängerin Helene Fischer.

(Foto: dpa)

Wer mit Sehnsüchten Geld verdienen will, muss einen Mangel erschaffen. In diesem Sinne ist das neue Album von Helene Fischer ein Meisterwerk.

Von Jakob Biazza

Vergessen wir mal die Musik. Vergessen wir Pop, Schlager, cool, tief, flach, authentisch. Diese ganzen Schubladen. Reden wir angesichts des neuen Albums von Helene Fischer lieber über Sehnsüchte. Über diese quälenden Stimmen, die uns einflüstern, dass wir nicht genug Leidenschaft, Liebe und Leichtigkeit in unserem Leben haben. Und reden wir über die Lebensbereiche, in denen Kinder gewickelt werden müssen, die Jobs von 9 bis 17 Uhr gehen und dann die Überstunden kommen, das Auto in die Reparatur gebracht werden muss, die Nachtschichten auslaugen, der Hund raus will und der Alltag die Liebe tötet. Jene Bereiche also, in denen das Vokabular quasi zwangsläufig ins Phrasige kippt, weil die Flucht vor ihnen immer schon Klischees waren.

Man belächelt das alles gerne. Dabei kennt es ja jeder. Es sind schließlich diese Fluchttendenzen, an denen Beziehungen scheitern, Aussteiger geboren werden und größere Romane und Filme ansetzen. Und ohne die es keine Pop-Kultur gäbe. Pop-Stars funktionieren ja mindestens auch, weil sie gelebte Sehnsüchte darstellen. Weil sie sie überhöhen, als Projektionsfläche widerspiegeln und auf ihre Fans zurückwerfen.

Das perfideste Stück (Pop-)Musik seit langem

Wobei das alles Kindergarten ist. Die wirklich großen Sehnsüchte verkauft Schlager. Deshalb verkauft Schlager sich. Und seit heute kann man womöglich auch den Schlager an sich wenigstens für ein paar Wochen vergessen und direkt sagen: Sehnsüchte verkauft ausschließlich Helene Fischer.

Denn "Helene Fischer", ihr neues Werk, das so heißt wie sie, ist das vielleicht perfideste Stück (Pop-)Musik, das seit vielen Jahren veröffentlicht worden ist. Auf jeden Fall ist es die reinste Hörermanipulation dieses inzwischen doch schon fortgeschrittenen Pop-Jahres.

Es ist also, man kann das jetzt auch nicht anders sagen, brillant. Und das hat nichts mit der Musik zu tun. Die Musik ist auf "Helene Fischer", dem Album, absurd egal. Noch mehr als sonst bei Helene Fischer, der Künstlerin, verhält sie sich zum Gefühl, das vermittelt werden soll, nur wie der Stecken zur Zuckerwatte: für den Geschmack völlig unerheblich, aber ohne gibt es Probleme beim Transportieren.

Das Album enthält also, je nachdem wie viel man für die Ausführung zahlt, bis zu 24 Stücke, die alle auf völlig gleiche Art unterschiedlich klingen: mal nach Cello-Klavier-Ballade, mal nach Club mit eher günstig eingekaufter Lichtanlage. Mal nach fußballstadiongroßer Woohoo-Euphorie, mal nach Country. Der Stecken eben. Landet nach dem Verzehr in der Tonne.

Perfide ist nun das Gefühl, das an diesem Stecken hängt. Die Zuckerwatte. In "Helene Fischer" steckt nämlich wirklich jede Sehnsucht, die viele sich zwischen 17 und 23 Uhr noch zu erträumen trauen.

Wer mit Sehnsüchten Geld verdienen will, muss einen Mangel erschaffen

Und wie immer, wenn man mit Sehnsüchten Geld verdienen will, muss man erst einen Mangel benennen. Vielleicht auch erschaffen. Im Fall des Albums kommt dieser Mangel (wieder) aus einem semantischen Feld mit Begriffen wie "Leichtigkeit", "Freiheit", "losgelöst", "Sternenmeer", "schweben", "fliegen".

Was man sich eben so ersehnt, wenn eigentlich gilt: "Du liegst in mancher Nacht wach in deinem Bett / Im Dschungel dieses Lebens hat sich das Glück vor dir versteckt" (aus dem Song "Schmetterling"). Wenn überall Schwere ist, Alltag und Pflicht. Und nirgends Leben.

Die Rettung also. Beziehungsweise die Retterin. Denn Helene Fischer "weiß, wie du dich fühlst" (immer noch "Schmetterling"). Dieses "Du" ist faszinierend. Es ist natürlich ein lyrisches Du. Einerseits. Ein fiktiver Angesungener und wenn der lacht, "dann lacht mein Herz mit dir". "Tausend Chöre" singen dann außerdem und alles ist eben endlich "losgelöst", "frei" und "leicht". Denn: "Du tanzt die Last von mir" und "Die Sonne steht so hoch wie nie, wenn alles Gute vor uns liegt. Dann ziehen wir mit dem Wind" (alles nicht mehr "Schmetterling").

Hier wird gelebt

Das "Du" ist aber natürlich immer auch der Hörer. Das Mangelwesen, für das die Liebe, der Alltag, das Leben wohl nie "schmeckt wie Sonne auf der Haut". Und das nun wahrscheinlich dieselbe Größe und Wucht und Intensität auch in seinen Gefühlen sucht. Und bei Helene natürlich. Das mit ihr also das "Leben lauter drehen" will. So zum Beispiel: "Coole Beats, kalte Drink, lauer Wind - ich spür das Leben". Oder so: "Im Raumschiff der Träume eine Runde drehen." Vielleicht auch mit "Herzbeben - wir wollen was erleben, durch die Decke heben". Oder zusammengefasst: "Heute wollen wir einfach mal nur das volle Programm. Um nicht zu vergessen: Hier wird gelebt."

Nur heute! Himmel, wie wohl all die anderen Tage aussehen?

Das Album ist damit ein ständiger, generalstabsmäßig geplanter Hinweis auf den Widerspruch zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit. Problemdiagnose und Heilung in einem. Eine Art Paradiesversprechen, erreichbar mit und durch Helene Fischer. Wäre es Politik, "Helene Fischer" schrammte stets knapp am Populismusvorwurf vorbei.

Wobei die Sängerin selbst für derartige Vorwürfe natürlich wiederum nie greifbar genug wird. Bei aller Nähe bleibt sie eine unerreichbare Figur, die ihre Versprechen mal haucht und mal trällert, mal stöhnsingt und mal divengroß erstrahlen lässt. Gesanglich übrigens absolute Oberliga. Vollkommene Stimmkontrolle. Jede Nuance, jedes Knarzen und Schnurren, jedes Maunzen und Frohlocken ist zum absoluten Idealtypus hochtrainiert. Das ist beeindruckend. Und verstärkt das Gefühl der Manipulation noch mehr.

Will alles sagen: Das Album ist perfekt für Menschen, deren "Ding" es ist, "dann und wann mal abzuheben". Alle anderen können einfach seine perfide Genialität bewundern.

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