Album "Magna Carta Holy Grail":Jay-Z und das Picasso-Dilemma

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Wenn das neue Jay-Z-Album "Magna Carta Holy Grail" ein Ereignis ist, dann vor allem ein unternehmerisches. (Foto: REUTERS)

Jay-Z ist reich genug, um sich einen echten Picasso aufs Klo hängen zu können, und gleichzeitig selbst ein Künstler vom Format und Rang des Spaniers. Ein Großereignis ist sein neues Album trotzdem nicht - höchstens ein unternehmerisches.

Von Joachim Hentschel

Freunde, auf welcher Seite steht ihr? Im heißesten amerikanischen Frühling, an den man sich erinnert, ohne allzu umständlich nachzudenken?

Erst kippt der Supreme Court die Anti-Diskriminierungsklausel im Wahlrecht. Kalifornien holt die Homo-Ehe zurück, dann gelingt der Senatorin mit den pinken Schuhen der Elf-Stunden-Superfilibuster gegen das texanische Abtreibungsrecht.

Der Prozess gegen den Mann, der 2012 in Florida den jungen Afroamerikaner Trayvon Martin erschossen hat, läuft noch immer. Obamas Regierung gibt zu, dass sie nicht nur die arme Tea Party mit Steuerschikanen gequält und Journalisten bespitzelt hat, sondern gleich noch den halben Rest der Welt dazu. W ährend der Verräter Snowden am Flughafen sitzt und darauf wartet, dass die Staatendiplomatie wie eine alte, überhitzte Glühbirne durchbrennt.

"Rap ist das CNN der black people"

Bürgerrechtsaufruhr liegt in der Luft. Aufbruch, Frühling, politischer Pollenflug. Und jetzt hat zu allem Überfluss auch noch Jay-Z ein neues Album herausgebracht. Jay-Z, der felsgewaltige, millionenschwere, umjubelte, auf allen Gesellschaftsebenen verkehrende New Yorker Rap-Megaunternehmer, von dem viele Teenager ja glauben, er wäre der wahre US-Präsident. Das erste neue Album seit 2009, veröffentlicht am 4. Juli, dem Unabhängigkeits- und Feuerwerkstag, an dem man doch eigentlich gar nichts veröffentlichen kann.

Was sagt Jay-Z nun auf "Magna Carta Holy Grail" - selbst der Albumtitel ist ein weit aufgesperrtes Maul - zu all den Ereignissen, in den 16 neuen, wortreichen Stücken?

Nun ja. Nichts.

Wäre auch eine völlig falsche Erwartung gewesen, kann man da gleich einwenden. Als Echtzeitkommentar funktioniert Musik ja selten, weil Produktion und Verbreitung zu lange dauern. Und dass speziell Rap das prädestinierte Medium für Leitartikel und Reportage, Anklage und Bekenntnis sei, das von sich aus nach Relevanz strebe, ist ohnehin ein altes, verbreitetes Missverständnis. Wer richtig hinhört, sollte erkennen, dass auch die Texte höchst respektierter Hip-Hop-Gestalten in der Regel vom Ruhm ihrer Schöpfer handeln und von wenig anderem.

Mit einigen, bemerkenswerten Ausnahmen. "Rap ist das CNN der black people", der fast zu Tode zitierte Ausspruch stammt von Chuck D, dem Sprachkopf der Gruppe Public Enemy, die Ende der Achtzigerjahre viele brachiale, effektive Hip-Hop-Parolen prägte. "Cop Killer" von Ice-T kam gespenstisch pünktlich zu den Los-Angeles-Riots von 1992.

Ein eigenes CNN braucht heute natürlich keiner mehr, der ein Telefon zum Twittern hat. Obwohl es nie zuvor so einfach und schnell gewesen wäre, Rap tagesaktuell zu produzieren und in die Welt zu schicken. Jay-Z hat sich die Technik auch zunutze gemacht, aber dazu später.

"Picasso Baby" und die Schattenseiten des Ruhms

Sagen wir es so: Wäre "Magna Carta Holy Grail" an einem ganz normalen Mittwoch in irgendeinem November erschienen, wahrscheinlich hätte sich die Enttäuschung gar nicht eingestellt. Angesichts der aufgeladenen Stimmung, des Luftknisterns, dazu des unheimlichen Aufwands, der PR-seitig um das Album aufgeführt wurde, das nicht nur bei Rap-Fans seit Wochen popkulturelles Diskussionsthema Nummer eins war - angesichts all dieser Umstände fällt es eben besonders schmerzlich auf, wie wenig uns eine Person von der Statur Jay-Zs in dieser historischen Situation zu sagen hat.

In "Holy Grail", dem Titelstück, dessen schlagsahniger Refrain von Hausfreund Justin Timberlake gesungen wird, erzählt Jay-Z erneut von den Schattenseiten des Ruhms, zu denen gehöre, dass er mit Ehefrau Beyoncé Knowles und der kleinen Tochter nie unbeobachtet spazieren gehen kann.

Gewinner der Grammys 2013
:Tanz ums goldene Grammophon

Justin Timberlakes Auftritt war schon vorab als Highlight des Abends gehypt worden, die Preise waren nicht ganz so vorhersehbar. Nun stehen Mumford & Sons, die Black Keys und Fun als große Gewinner der Grammys 2013 fest - mehrere Abräumer der vergangenen Jahre mussten sich eher bescheiden zeigen.

Die Stars des Abends.

"Picasso Baby" (übrigens eines mehrerer Stücke, die auf großartigen Funk-Samples des eher unbekannten schwarzen Komponisten Adrian Younge basieren) ist eine Art Museumsrundgang, vorbei an all den alten Meistern, in deren Reihe er sich so sieht.

Reich genug zu sein, um sich einen echten Picasso aufs Klo hängen zu können, gleichzeitig selbst ein Künstler vom Format und Rang des Spaniers - das fasst das Dilemma ganz gut zusammen, in dem der 43-Jährige heute steckt, der eigentlich Shawn Carter heißt, als Jugendlicher mit Drogen dealte, mittlerweile ein geschätztes Vermögen von 500 Millionen Dollar hat, Anteile an Entertainment- und Modefirmen, Kneipenketten, eine Sportrechteagentur. Sowie die Privatnummer von Barack Obama, der bei einer Wahlkampfrede in Ohio einmal sagte, er und Jay-Z hätten doch ganz ähnliche Lebensprobleme.

Denn wenn "Magna Carta Holy Grail" ein Ereignis ist, dann ein unternehmerisches, marketingtechnisches. Wie berichtet, hat Jay-Z vorab einen phänomenalen Deal mit dem Handyhersteller Samsung ausgehandelt, der ihm (zum unfassbaren Einkaufspreis von angeblich fünf Dollar pro Stück) eine Million Album-Downloads abnahm und über eine App an seine Kunden verschenkte.

Die CD-Version wird erst am 8. Juli in die Geschäfte kommen. Sie wird niemanden mehr interessieren, weil die Welt bis dahin mit den illegalen Downloads versorgt sein wird, die Samsung-Freunde seit Donnerstag früh großherzig ins Netz stellen. Es ist anzunehmen, dass der Geschäftsmann Jay-Z das weiß und duldet.

Sich fünf Millionen Dollar dafür bezahlen zu lassen, dass ein koreanischer Elektronikkonzern gratis den Vertrieb einer neuen Platte erledigt, ist wirklich ein neues Geschäftsmodell. Mit dem kein anderer Künstler durchkommen würde.

Was Jay-Z Edward Snowden raten würde

Der einzige Moment dieser netten, angenehmen, aber eben völlig harmlosen Platte, in dem es plötzlich auch thematisch interessant wird, ist "Oceans". Regenwolkige Bläser, bedrohlich schunkelndes Tempo, Jung-Soulwunder Frank Ocean singt den Refrain: Es geht ums Wasser, auf dem die Sklaven und Flüchtlinge in Schrottbooten das gelobte Land erreichen.

Im nächsten Moment mischt sich Champagner hinein, wahrscheinlich eine Schiffstaufe, oben auf dem Deck der Yacht Jay-Z, der über die Jahre zu Geld und Stand gekommene amerikanische Ex-Außenseiter. "Im schwierigen Wasser musste ich lernen, oben zu bleiben", rappt er zu uns herunter.

Was der Großmeister wohl Edward Snowden raten würde? Wahrscheinlich: sich zu stellen. Ein Mann zu sein. In dem wunderbaren Land, in dem auch ein ehemals Unterprivilegierter wie Jay-Z eine zweite Chance bekommen hat und heute mit dem Präsidenten essen darf. Oder so ähnlich.

Obama legt Amtseid ab
:Party für den Präsidenten

Vereidigung, Rede, Parade - aus dem ganzen Land waren Amerikaner in das Washingtoner Regierungsviertel gekommen, um den Auftakt zur zweiten Amtszeit Barack Obamas zu feiern. Auch am Abend gingen die Feierlichkeiten weiter. Doch immerhin musste das US-Präsidentenpaar diesmal nur auf zwei Bällen tanzen. Die besten Bilder im Fotoblog.

Vor wenigen Wochen erschien übrigens eine Hip-Hop-Platte, die auch von einem Millionenmann stammt, sich aber völlig anders anhört. Kanye West, früherer Protegé und heutiger Augenhöhepartner von Jay-Z, geriert sich auf "Yeezus" tobend als Jesus, Gott und schwarzer Skinhead. Rappt von modernem Sklavenhaltertum, Gefängnissen, Unterdrückung. Rupft alle Reißverschlüsse auf, dreht jeden Regler weit ins Rote, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Auch er: ein Rap-Geck. Aber einer, der - wie man so schön sagt - wenigstens mal wieder ein Fass aufgemacht hat.

Kanye West hat sich übrigens auch mit Picasso verglichen. Ihm würde man es glauben. Jay-Z ist, bei allem Respekt, vielleicht doch eher Salvador Dalí.

© SZ vom 05.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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