Al Pacino zum 70. Geburtstag:Voll im Spiel

Absolute Verletzlichkeit, dazu eine Art Todesmut, gepaart mit Eiern so groß wie Medizinbälle: Al-fucking-Pacino ist noch besser als die meisten Menschen ohnehin schon glauben.

Tobias Kniebe

Es ist der größte Moment einer epochalen Darstellungsleistung in der berühmtesten Trilogie der Filmgeschichte. "Niemand sieht diesen Moment", sagt Al Pacino, der es wissen muss. Er hat ihn schließlich geschaffen. "Aber wenn es einen Augenblick in den drei Paten-Filmen gibt, auf den ich wirklich stolz bin", sagt er - "dann den."

Al Pacino

Al Pacino treibt sich selbst bis an den Rand der Erschöpfung, um Nuancen in seinem Spiel zu erreichen, die außer ihm selbst und ein paar Meisterregisseuren gar niemand mehr sieht.

(Foto: Foto: AP)

Der Boden unter den Füßen

Es passiert im zweiten Teil, ungefähr in der Mitte. Don Michael Corleone ist in Havanna. Er feiert mit seinem Bruder Fredo und ein paar schmierigen Amerikanern. Es ist spät, es ist unfassbar schwül, sie sind in einem Live-Sex-Club gelandet. Auf der Bühne enthüllt der Hauptdarsteller gerade sein Ding, das ihm in Havanna den Spitznamen "Superman" eingetragen hat. Eigentlich kein Setting für eine antike Tragödie.

Aber dann sagt Fredo, alias John Cazale, aus Versehen diesen Satz, der klarmacht, dass er der lang gesuchte Verräter der Corleones ist. Die Kamera geht auf Pacinos Gesicht. Darin passiert nicht viel. Nur dass hier einem Mann, der ohnehin schon das Gefühl hat, die ganze Last der Familie und eigentlich der Welt zu tragen, gerade der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Man sieht durch seine geweiteten Augen hindurch in sein Herz. Dieses Herz befindet sich, mehrere Sekunden lang, im freien Fall. In der nächsten Szene wird das große Morden beginnen. Und es wird nicht Michael Corleone sein, der stirbt.

Und am Morgen nach dem Dreh dieser Szene muss der Regisseur Francis Ford Coppola Pacino ins Krankenhaus einliefern. Wegen akuter Überanstrengung.

Wahrheit und Durchlässigkeit

Wenn man erklären will, was Alfredo James Pacino, Jahrgang 1940, aufgewachsen im südlichen Teil der Bronx, wirklich ausmacht, kann man es eigentlich nur so erklären. Er treibt sich selbst bis an den Rand der Erschöpfung, wieder und immer wieder, um Nuancen der Wahrheit und Durchlässigkeit in seinem Spiel zu erreichen, die außer ihm selbst und ein paar Meisterregisseuren, die mit ihm gearbeitet haben, vielleicht gar niemand mehr sieht.

Aber darum geht es auch nicht. Es geht eher um das Gefühl, dabei in eine alternative Realität einzutreten, vollständig eins zu werden mit der eigenen Leidenschaft. Wie beim Hochseilartisten im Zirkus, der ohne Netz in die Kuppel steigt, weil das Leben anders eben nicht zu spüren ist. Dieses Beispiel verwendet Pacino öfter, wenn er über seine Arbeit spricht.

Zuschauer, Normalsterbliche, Nicht-Schauspieler können vielleicht nicht exakt verstehen, was das bedeutet. Aber sie spüren es natürlich doch. Was dann auch der Grund ist, warum man heute nicht mehr einfach Al Pacino bewundert, oder trifft, oder mit Al Pacino arbeitet. Hip-Hopper und Migranten, die ihn allein wegen Scarface bis in alle Ewigkeit verehren werden, Fans, jüngere Regisseure und Kollegen, die mit ihm gedreht haben - sie alle spüren das kollektive Bedürfnis, zwischen seinen Vor- und Nachnamen noch eine Art Puffer einzuführen, um die Wucht dieser Kombination erst so richtig auszukosten: Al-fucking-Pacino.

Diese Hundewelpenaugen

So nennt ihn zum Beispiel Christopher Nolan, der mit ihm Insomnia gedreht hat, und der gerade dabei ist, der wichtigste aller neuen Blockbuster-Regisseure zu werden. "Er ist besser, als die meisten Menschen glauben", sagt Nolan. "Und die meisten Menschen glauben ohnehin schon, dass er der Beste ist."

Wie aber wird man von einem schmächtigen Kerl aus der South Bronx, der gern das Maul zu weit aufreißt und den alle nur "Sonny" nennen, zu Al-fucking-Pacino? Der Drang zu spielen muss natürlich da sein - auch wenn er auf die Stanislawski-Methoden, die man ihm an der High School of Performing Arts beizubringen versucht, nur mit einem Gähnen reagiert. Da hält es ihn kein Semester lang. Trotzdem macht er weiter, durch Jahre voller Armut und mieser Jobs hindurch, trotz einer ersten Ablehnung am Actors Studio.

Er spielt auf Amateurbühnen und sogar als Teil eines Kaffeehaus-Comedy-Duos - bis Lee Strasberg schließlich doch etwas in ihm erkennt. Da hat sich dann schon ein Zorn hinter seinen braunen Hundewelpen-Augen aufgestaut, der gefährlich durch seine Bühnenpräsenz in Off-Broadway-Theatern hindurchbrennt. Bei Israel Horovitz' The Indian Wants the Bronx, 1968, werden Kritik und Publikum zum ersten Mal wirklich auf ihn aufmerksam.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es nichts macht, dass Al Pacino auch schlechte Filme gedreht hat.

Ohne eine Sekunde Pause

Das Kino ruft drei Jahre später, mit Panic in Needle Park. Dann folgt schon der erste Pate; es geht weiter mit dem lang unterschätzten Scarecrow, anschließend Serpico, der zweite Pate, dann Dog Day Afternoon. Vier Jahre, sechs Filme, nur drei Regisseure - Coppola, Jerry Schatzberg, Sidney Lumet - aber was für eine Serie! Baseballspieler wäre Pacino gern geworden, bevor er seine Berufung fand. Jetzt schlägt er eine Folge von Homeruns, wie sie wohl keinem anderen jungen Schauspieler noch einmal gelungen ist.

Doch das Theater bleibt wichtig für ihn, vielleicht sogar entscheidend. Öfter als jeder andere amerikanische Star wird er zur Bühne zurückkehren. Denn dort ist, immer noch, das eigentliche Hochseil aufgespannt. "Natürlich ist das Kino keine geringere Kunst", sagt er. "Auch im Kino gibt es ein Seil. Nur leider ist es höchstens ein paar Zentimeter über dem Boden aufgespannt."

Ein dankbares, sensationslüsternes Publikum

Den Regisseuren, die diesen Aspekt seiner Leidenschaft verstanden haben, schenkt er seine größten Performances - da muss man sich zum Beispiel nur Sidney Lumets Dog Day Afternoon anschauen. Ein Mann überfällt mit Komplizen eine New Yorker Bank, um die Geschlechtsumwandlung seines schwulen Lovers zu bezahlen - das war 1975 doch ziemlich exotischer Stoff. Daraus wird eine langwierige, schweißtreibende Geiselnahme, die Nerven liegen allseits blank. Immer wieder muss Pacino, alias Sonny Wortzig, auf den Gehsteig hinaus, um mit der Polizei zu verhandeln.

Hinter den Absperrungen wartet ein dankbares, sensationslüsternes Publikum. So wird dieser Bordstein, auf dem Pacino ruhelos hin- und hertigert, alle Waffen der Polizei auf sich gerichtet, zum Bühnenrand eines Improvisationstheaters. Sein Protestruf "Attica! Attica!", der auf die brutale Niederschlagung eines Gefängnisaufstands im Jahr 1971 anspielt, ist dann eine pure Eingebung des Moments.

Sein Schicksal: lebenslange Überforderung

Noch einen anderen, theaterartigen Trick benutzt Sidney Lumet bei diesem bemerkenswerten Film: Sein Star muss die zwei entscheidenden, zutiefst emotionalen Telefongespräche am Schluss - mit seinem Lover und seiner Ehefrau - ohne Unterbrechung durchspielen. Nach dem ersten vierzehnminütigen Take, in dem Pacino sich völlig verausgabt, verlangt Lumet einen zweiten - ohne eine Sekunde Pause. Pacino, mit vor Anstrengung schon brechenden Augen, gehorcht, beginnt von vorn - und gibt dem sadistisch-genialen Lumet weitere vierzehn Minuten, die dann endgültig ins Pantheon der Filmgeschichte eingehen.

Al-fucking-Pacino, da ist er also: Absolute, essentielle Verletzlichkeit, dazu eine Art Todesmut, gepaart mit Eiern so groß wie Medizinbälle. Wer spricht hier zu uns - wenn nicht das moderne Individuum selbst? Sein Schicksal ist lebenslange Überforderung. Es kämpft einen Kampf, der nicht zu gewinnen ist. Aufgeben kommt, in Pacinos Fall, allerdings noch viel weniger in Betracht.

Auch Al Pacino hat schlechte Filme gedreht. Doch der Platz reicht hier nicht einmal für seine Meisterwerke wie Heat. Anders als der drei Jahre jüngere De Niro hat er es sich auch nicht mit einem Restaurant-Imperium gemütlich gemacht, oder, wie Dustin Hoffman, den Alters-Clown in sich entdeckt. An seinem siebzigsten Geburtstag, den er am Sonntag feiert, ist er immer noch voll im Spiel. Er hat nichts anderes. Oder, wie ein berühmter Zirkusartist es ihm einmal erklärt hat: "Das Leben ist auf dem Seil - der Rest ist Warten."

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