Adam und Eva:Vor uns die Welt

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Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt entfaltet den Mythos von Adam und Eva, den mächtigsten der Menschheit, bis hin zu Milton und Masaccio. Und zu einer Erektion des jungen späteren Kirchenvaters Augustinus.

Von Jens Bisky

Hatte Adam einen Nabel? Der lockere Ältervater, von dem die Menschen abstammen, wurde erschaffen, nicht geboren, ein Nabel war also nicht vonnöten. Aber schwer fällt es, einen vollkommenen Menschen ohne diese markante Stelle auf der Mitte des Bauches zu imaginieren. Der Text, der über Adam und Eva berichtet, über ihren Aufenthalt im Paradies, die folgenreiche Entscheidung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und die Vertreibung des ersten Paares ins menschliche Dasein, schweigt über das Nabel-Problem.

Vielleicht war dieses Detail zu unwichtig, bedenkt man, welche großen Themen die kurze Erzählung berührt. Sie handele, schreibt der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, davon, "wer wir sind, woher wir kommen, warum wir lieben, warum wir leiden". Es geht um Arbeit, Sprache, Sex und Tod und einiges mehr. Wer da etwas aufdringlich nach dem Bauchnabel fragt, hat sich für eine bestimmte Art des Lesens und Verstehens entschieden, wahrscheinlich will er Adam und Eva so deutlich vor sich sehen wie Kevin und Manuela aus der Nachbarschaft. Der Wunsch ist berechtigt, er hat über die Jahrhunderte zur Wirkmächtigkeit der Geschichte Entscheidendes beigetragen. Wie Adam und Eva in Literatur und Kunst "wirklich" geworden sind, stellt Stephen Greenblatt dar. "The Rise and Fall of Adam and Eve" heißt sein Buch im Original. Wenn man ihm eine These abgewinnen wollte, würde sie etwa so lauten: Je "wirklicher" Adam und Eva imaginiert wurden, je mehr sie Fleisch und Licht und Tag gewannen, desto weniger ließ sich die Frage beantworten, warum Gott die Versündigung der Menschen zuließ.

Auf Buchmessen sind die Autogrammjäger unterwegs, eine Spezies, die zwei Stufen der Menschheit vereint: Sie sind Jäger und Sammler. (Foto: Job Wouters)

Aber der an der Harvard University lehrende Autor hat viel zu viel Freude am Erzählen, als dass er eine These aufstellen, prüfen, entfalten und anmerkungsreich differenzieren würde. Er nimmt die Leser an der Hand und zeigt ihnen, so gelehrt und unbefangen, als wäre darüber noch nie geschrieben worden, was sich entdecken lässt, wenn man Adam und Eva vom 1. Buch Mose über apokryphe Schriften hin zum Kirchenvater Augustinus, dann vor die Bilder von Masaccio und Dürer, in die Verse John Miltons und die Fußnoten Pierre Bayles folgt. In Geschichten verdeutlicht Greenblatt, warum der Mensch das erzählende Tier ist, ein Wesen, das ohne Erzählungen nicht leben kann - und wie die Geschichten um Adam und Eva Kultur und Selbstbild geprägt haben.

Also rekapituliert Greenblatt, was man über den polemischen Ursprung der hebräischen Schöpfungserzählung im Exil weiß, über den gelungenen Versuch, die babylonischen Mythen zu überbieten und auf diese Weise die Allmacht und Allgegenwart Jahwehs herauszustellen. Der hatte die ersten Menschen geschaffen, "so wie er die Zerstörung Jerusalems gewollt haben muss und auch das Exil seines auserwählten Volkes, als Strafe nämlich für dessen Ungehorsam".

Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. Siedler Verlag, München 2018. 448 Seiten, 28 Euro. E-Book 24,99 Euro. (Foto: N/A)

Den Kern des Buches bilden zwei biografische Versuche, einer über Augustinus und die Ursünde, einer über John Milton und sein episches Gedicht vom verlorenen Paradies, "Paradise Lost". Das 1667 erschienene Werk sei, heißt es hier, "eines der großartigsten Gedichte der Welt", sein Schöpfer könne es mit Homer und Vergil aufnehmen, stehe auf einem Gipfel mit Shakespeare. Dass Greenblatt eine heftige Affäre mit dem Superlativ und den großen rhetorischen Gesten pflegt, weiß man spätestens seit seinem Buch über Lukrez-Lektüren und den Beginn der Renaissance, "Die Wende".

Und dennoch folgt man ihm gern in die Thermen von Thagaste, wo der 16-jährige Augustinus im Jahr 370 eine unwillkürliche Erektion hatte. Der Vater berichtete davon, wie in den "Bekenntnissen" Augustins nachzulesen, voller Freude der Mutter, die in frommer Angst erzitterte und für ihren Sohn fürchtete. Aus dem spätantiken Familienkonflikt und dessen weiteren Verwicklungen erklärt Greenblatt einige theologische Überzeugungen des Augustinus, etwa die, dass schon Kleinkinder nicht frei von Sünde seien, dass im Menschen etwas von Geburt an moralisch falsch sei. Ein Zeichen dafür sei es, dass Menschen zwar Zunge und Füße frei bewegen können, aber keine Macht über das Fleisch haben. Sobald der Trieb ins Spiel kommt, ruhelos und unwillkürlich, erleben wir einen Zwiespalt zwischen Willen und Körper. Warum das so ist, lässt sich der Erzählung von Adam und Eva entnehmen. Diese sei, so Augustinus, nicht allegorisch zu verstehen, sondern wörtlich, als "unverfälschte Darstellung einer historischen Realität".

Wie die Schlange im Paradiese eröffnet auch der Druckfehlerteufel in den Augustinus-Kapiteln neue Perspektiven. Gleich zwei Mal wird Dido, die Geliebte des Aeneas, über deren Selbstmord der junge Literaturliebhaber Augustinus Tränen vergoss, "Dildo" genannt.

Den Wunsch des Augustinus, man möge die Erzählung von Mann und Männin, von der Schlange und den Bäumen für so buchstäblich wahr nehmen wie die eigene Lebensgeschichte, sieht Greenblatt etwa in Albrecht Dürers Stich von 1504 erfüllt, der den letzten Augenblick der Unschuld festhält.

Und in Miltons "Paradise Lost". Auch diese Dichtung wird vor allem biografisch erläutert. John Milton war ein auffallend keuscher Jüngling, seine erste Ehe scheiterte zunächst in entsetzlichen Flitterwochenszenen. In seiner berühmten Verteidigung der Pressefreiheit schrieb Milton, es sei töricht zu beklagen, dass "die Vorsehung Adams Übertretung geduldet habe". Gott gab ihm Vernunft, also die Freiheit zu wählen. Auch deshalb warb Milton für das Recht auf Ehescheidung. All seine Erfahrungen - Einsamkeit, politische Niederlagen, Erblindung - flossen ein in sein Poem. In der Überzeugung, jeder Mensch sei Erbe von Adam und Eva, verlieh der Dichter den beiden so viel menschliche Präsenz, dass alle anderen Figuren, Gott, Satan, Engel, daneben "irgendwie an Kontur und Bedeutung" verlieren. Sie seien so real geworden, "dass sie den gesamten theologischen Apparat aufbrechen lassen". Diese Beobachtung, das Irgendwie, hätte man gern genauer beschrieben und entfaltet gehabt. Stattdessen kommen leider Superlative über schönste Verse - und dann eine Revue rebellischer, aufgeklärter und naturwissenschaftlicher Deutungen und Gegenthesen.

Zwei autobiografische Szenen rahmen das Buch. Dem jungen Greenblatt wurde gesagt, er solle während der Segenswünsche im Sabbatgottesdienst zu Boden blicken, denn über ihm schwebe Gott, dessen Anblick keiner überlebe. Der Knabe nimmt all seinen Mut zusammen, schaut nach oben - und fühlt sich belogen. Und am Ende erzählt Greenblatt von einem Schimpansenpaar, das er in Uganda beobachtet haben will. Sie sondern sich ab, missachten den Willen des Alphatiers, finden in Zärtlichkeit zueinander und schlagen sich durchs Dickicht ins Unbekannte: "Die Welt lag vor ihnen." Damit belegt Greenblatt, dass die Erzählung von Adam und Eva, wie auch immer es um ihre theologische Deutung und den Glauben an sie bestellt sein mag, für die Imagination nichts an Faszinationskraft verloren hat.

Eine kluge Antwort auf die Frage nach Adams Nabel gab im 19. Jahrhundert der englische Naturforscher Philip Gosse. Adam, geschaffen als 25 bis 30 Jahre alter Mann, musste, um vollkommen auszusehen, einen Nabel haben. Gott schuf ihn mit dem Zeichen einer Vergangenheit, die Adam nie hatte, mit der "wissenschaftlich überzeugenden Spur einer Vergangenheit, die niemals existierte". Auf seine Weise war auch der Schöpfer ein Erzähler, der auf Fiktionen nicht verzichten konnte.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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