Acht-Stunden-Opus:Der langsamste Film der Welt

Acht-Stunden-Opus: Die Erforschung der philippinischen Seele: Szene aus "A Lullaby to a Sorrowful Mystery".

Die Erforschung der philippinischen Seele: Szene aus "A Lullaby to a Sorrowful Mystery".

(Foto: Bradley Liew)

Nur für Zen-Buddhisten: Wie es sich anfühlt, auf der Berlinale einen acht Stunden langen Arthouse-Film in Schwarz-Weiß zu sehen.

Von Paul Katzenberger, Berlin

Zur Freiheit gehört der Mut, Dinge anzupacken. Beim Internationalen Filmfestival in Rotterdam etwa schreckten die Veranstalter kürzlich nicht vor dem Aufwand zurück, ein ganzes Symphonieorchester zusammenzutrommeln, um die Vorführung des Schlussfilms "The Childhood of a Leader" mit einem Live-Soundtrack zu begleiten.

Für die Gäste des Galaabends war das eine musikalische Aufwertung des primär optischen Erlebnisses Kino. Doch zur Freiheit gehört wohl auch manchmal der Mut, sein Publikum nicht vor künstlerischen Zumutungen zu verschonen. Das oder etwas Ähnliches müssen sich die Berlinale-Macher gedacht haben, als sie entschieden, in diesem Jahr das neue Werk "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" des philippinischen Filmemachers Lav Diaz als regulären Wettbewerbsbeitrag zu zeigen.

Mutig war diese Entscheidung schon wegen der achtstündigen Länge des Werkes, was nicht ohne großen organisatorischen Aufwand zu machen ist. Immerhin musste der Film ja irgendwo gezeigt werden. Es reichte dann zu zwei Vorführungen - fünf bis sechs sind normal. Damit waren immer noch zwei große Festivalkinos jeweils einen Tag blockiert.

Kühn war die Platzierung von "A Lullaby" bei der Berlinale aber auch, weil Diaz als Macher eines "Slow Cinema" bekannt ist. Bei ihm gibt es durchaus 45-minütige Einstellungen, in denen Leute nichts anderes machen, als über ein Feld zu laufen.

In seiner neuen Arbeit geht es um den philippinischen Befreiungskampf von 1896, der die 300 Jahre währende spanische Kolonialherrschaft beenden sollte, was nicht gelang. Diaz nähert sich dem Trauma der philippinischen Nation meditativ - in einem komplex verschachtelten Film, in dem Mythologie und Fakten ineinander fließen. Erst ganz am Schluss, also etwa in Minute 480, wird deutlich, um was es in "A Lullaby" überhaupt geht: um die Erforschung der philippinischen Seele, so legt es eine der Hauptfiguren in ihrem finalen Monolog dar.

Es ist schwierig, minutenlang auf eine Wald-Lichtung zu schauen

Das ist selbst für Arthouse-Fanatiker mit noch so großem Sitzfleisch im Schwerlastbereich. Acht Stunden extrem langsames Kino, in strengem Schwarz-Weiß und dem gewöhnungsbedürftigen 4:3-Digitalformat, nicht eben durch eine fließende Handlung und packende Spannungsbögen aufgelockert - wie hält man so etwas durch?

Diaz bezeichnet seine Filme selbst als Zen-Übung. Das Beschreiten des Zen-Weges gilt als eines der schwierigsten Unterfangen, denen sich der Mensch stellen kann. Zen-Schülern wird die vollständige Aufgabe des selbstbezogenen Denkens abverlangt, was erst nach jahrelangen Meditationsübungen gelingt - und dann auch nur in Ansätzen.

Wer Zen beherrscht, vermag den gegenwärtigen Moment vollständig und bewusst wahrnehmen, ohne ihn zu beurteilen. Wer das nicht schafft, der hat mit "A Lullaby" ein Problem. Denn es ist einfach schwierig, minutenlang auf eine Lichtung im Tropenwald zu schauen, auf der sich erst gar nichts und dann sehr wenig tut, ohne gedanklich abzuschweifen. Dasselbe gilt für Flussufer, die eigentlich nur da sind.

Exotischer Selbsterfahrungstrip

Des Zuschauers Emotionen gehen nicht durch die Decke, wenn sich der Ton eines Films in Monologen, dem Rauschen des Waldes, dem Plätschern des Regens, dem Zwitschern der Vögel, dem Zirpen der Grillen und seltenen Dialogen erschöpft, der Soundtrack aber fehlt.

Zen kann da weiterhelfen, und das mag zum Teil erklären, dass die philippinischen Zuschauer bei "A Lullaby" am willigsten zu sein schienen, diesen Film durchzustehen.

Für die nicht-asiatischen Zuschauer war das offensichtlich ein exotischer Selbsterfahrungstrip. Dazu sind nicht alle Menschen bereit - in beide Vorstellungen strömte weit weniger Publikum als üblich: Im Berlinale-Palast, der bei den üblichen Pressevorführungen stets randvoll mit Journalisten ist, tummelten sich weniger Beobachter als sonst, obwohl die Vorführung auch für Nicht-Journalisten freigegeben worden war.

Wenig Genuss

Doch diejenigen, die nach vier Stunden noch da waren, bewiesen eisernen Durchhaltewillen - massenhafte Walk-outs, die bei der Berlinale bei gefälligeren Filmen zum Tagesgeschäft gehören, waren rar. Wer bis zum Schluss blieb, schien sich einem Korpsgeist verpflichtet zu fühlen, der lautete: "Wir sind in Zeiten des Popcorn-Kinos die letzte Phalanx des Arthouse-Films, die alles durchsteht".

Mit Genuss hatte das wenig zu tun, wie allein die bleierne Reaktionslosigkeit des Publikums auf Diaz' Film suggerierte. Lacher und spontanes Klatschen gehören zur Berlinale, doch bei "A Lullaby" gab es ganz offensichtlich wenig zu lachen und zu beklatschen - man dämmerte eher vor sich hin, zwischenzeitliches Einschlafen nicht ausgeschlossen. Im Auditorium regte sich in den acht Stunden des Films wenig - selbst die notorischen Schnaufer und Hüstler schienen in einen Zen-Schlaf gefallen zu sein.

Kurz vor der sechsten Stunde des Filmes diskutieren zwei Figuren des Films über die Bedeutung der Kunst für den politischen Wandel. "Die Welt braucht die Kunst für ihre Seele. Kunst bedeutet Freiheit", proklamiert der eine. "Nein, Künstler sind egomanisch", antwortet der andere. Hin und her geht die Debatte, bis Lav Diaz beiden mit seinem eigenen Werk faktisch recht gibt. "A Lullaby ..." ist der ernst gemeinte Versuch, das Joch der philippinischen Geschichte zu adressieren, doch was nützt das, wenn das Publikum wegen der egomanischen Arbeitsweise des Regisseurs kaum folgen kann?

Da bleiben nur zwei Auswege: Entweder Zen-Buddhist werden, oder ab und zu eine Filmpause einlegen. Der nächste Imbiss - und sei es ein philippinischer - ist in Berlin mit Sicherheit keine acht Stunden entfernt.

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