Abschied:Zuwendung in letzter Not

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Peter Gülke: Musik und Abschied. Bärenreiter, Kassel und J. B. Metzler, Stuttgart 2015, 362 Seiten, 29,95 Euro. (Foto: N/A)

Peter Gülke erkundet, was Musik und Literatur vom Sterben wissen.

Von Jens Malte Fischer

Es ist ein eigenartiges, sehr eigenes Buch, von dem hier berichtet wird. Auf dem Umschlagfoto sieht man den Verfasser an einem See sitzen und dem Sonnenuntergang am gegenüberliegenden Ufer entgegenblicken. Da Fontane im Buch vorkommt, redet man sich ein, es könnte sich um den Stechlinsee handeln. Und natürlich assoziiert man die Gestalten auf Bildern Caspar David Friedrichs, die mit dem Rücken zum Betrachter sich einer Landschaft gegenüber positionieren. Peter Gülke ist nicht erst seit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis 2014 ein hochgeachteter und ebenso hochgeehrter Mann. So verdient die vielen Ehrungen sind, die er erhalten hat, so wenig sah es eine ganze Zeit in seinem Leben nach solchen Ehrungen und Erfolgen aus. Der in der DDR eingeschnürte, aus Weimar stammende Dirigent und Musikologe Gülke verließ diesen Staat 1983 und hatte es danach im sogenannten Westen nicht einfach. Die doppelte Qualifikation als studierter Dirigent und studierter Musikwissenschaftler wirkte sich zunächst eher hinderlich aus.

Peter Gülke hat trotz einer keineswegs unbeachtlichen Laufbahn als Konzert- und Operndirigent es eigentlich zunächst vor allem als Autor erreicht, ernst genommen und beachtet zu werden. Er hat dabei, und auch das war nicht nur von Vorteil, die Fach- und Spezialbegrenzungen der üblichen Musikwissenschaft (und in diesem Schubladendenken waren sich Ost und West ausnahmsweise durchaus einig) nie beachtet. Seine Kenntnisse und Interessen reichen von Guillaume Du Fay bis zu György Kurtág und von Josquin des Prés bis zu Allan Pettersson, also kurz gesagt vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Buch über "Schubert und seine Zeit" (1991) hat Gülke sich vor nun schon geraumer Zeit als einer der bedeutendsten Autoren, die über große Musik zu schreiben verstehen, etabliert; seine Studien zu Beethoven und zu Mozarts letzten Symphonien haben diesen Rang bestätigt, der es ihm ermöglichte, ein Publikum zu erreichen, das deutlich über den kleinen Kreis der musikwissenschaftlich Interessierten hinausging und Leser anzog, die sich auf einem bestimmte Minimalanforderungen nicht unterschreitenden Niveau geistvoll und stilistisch geschliffen belehren lassen wollen.

Wir können Toter nicht gedenken, ohne die eigene Sterblichkeit zu bedenken

Das neue Buch Gülkes ist ein ander Ding. Es geht, wie der nüchtern-präzise Titel aussagt, um den Zusammenhang von Musik und Abschied. Aber das ist nicht alles. Dieses Buch ist persönlich auf eine Weise, die einerseits dem völlig ausgeuferten Exhibitionismus unserer Zeit diametral entgegengesetzt ist, andererseits so unverstellt von sich selbst spricht, wie man es von ihm nicht erwartet hat. Es wird nicht lange darum herumgeredet: Dieses Buch ist auch ein Abschied des Verfassers von seiner verstorbenen Frau. Schon die Einleitung mit dem Titel "Am Abend zuvor" lässt daran keinen Zweifel, und die insgesamt fünf Selbstgespräche, die in den Text eingeschoben werden, vervollständigen das Bild eines Requiems für die Gefährtin eines langen, gemeinsamen Lebens.

Es mag sein, dass nicht jeder Leser sich sofort mit einer solchen Offenheit befreunden kann; jedenfalls sind Leser von Musikbüchern dieser Art solches bisher nicht gewohnt gewesen. Es sei aber versichert, dass es Gülke gelingt, den leisesten Hauch von Betretenheit beim Adressaten zu vermeiden. "Musik und Abschied" ist ein Bekenntnisbuch geworden, aber auch ein Kenntnis-Buch, und was für eines. In 54 Kapiteln wird die abendländische Musik unter der Perspektive des Abschieds durchmessen. Und nicht nur die Musik: der große Leser Gülke (in dessen Familie einst ein gewisser Geheimrat Goethe "einheiratete", wie es in der Familientradition süffisant heißt) schreibt genauso fundiert über Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Christa Wolf, Andreas Gryphius und natürlich über Goethe. Eines der umfangreicheren Kapitel beschäftigt sich mit diesem Ahnherrn und dessen vielfältig mit hochgezogenen Augenbrauen konstatierter Berührungsangst, oder wie immer man das nennen will, gegenüber dem Tod. Zum sterbenden und dann begraben werdenden Freund Schiller, zum Begräbnis der eigenen Frau, zu dem des herzoglichen Freundes und zu seinen schon früher die Welt verlassen habenden Eltern fühlte er sich nicht hingezogen. "Den Tod aber statuiere ich nicht", so sagte Goethe es selbst.

Man könnte ja meinen, ein Buch mit solchem Thema würde sich vor allem mit den großen Requien der Musikgeschichte beschäftigen. Die kommen natürlich auch vor, ob es sich um Zelenka, Mozart oder Verdi handelt, aber dabei bleibt dieses Buch nicht stehen. Mit untrüglichem und bewunderungswürdigem Spürsinn geht Gülke etwa jener Arie der Pamina in der "Zauberflöte" nach, in der die junge Frau viermal von der "Ruh' im Tod" singt: "Dass wir Toter nicht gedenken können, ohne die eigene Sterblichkeit zu bedenken, bringt hohe Ansprüche für jede Trauermusik mit sich und macht uns im Gegenüber zum Tod als dem großen Schweiger verdächtig, weniger den Verstorbenen als uns selbst zugewendet zu sein."

Dieses Buch ist, es muss betont werden, nicht unanspruchsvoll, aber es ist kein Buch für Musikologen (auch wenn diese als Leser sich nicht ausgeschlossen oder unterfordert fühlen müssen), sondern es ist ein Buch für alle, die sich mit dem Tod und dem Abschied von Sterbenden, wie sie große Kunst immer wieder gestaltet hat, auseinanderzusetzen bereit sind.

Der Feststellung, dass Liebe und Tod zentralste Themen von Kunst sind, wird schwerlich zu widersprechen sein; im sogenannten Liebestod kulminiert das auf eine Weise, die natürlich auch ein Gegenstand dieses Buches ist.

Es ist leserfreundlich aufgebaut, denn die vielen kleinen und mittleren Abschnitte müssen nicht hintereinander weg oder gar in einem Zuge gelesen werden. Einer der schönsten Texte ist selbst eine Toten-Rede, nämlich die auf den Freund Dietrich Fischer-Dieskau. Gülkes Kunst der Personencharakterisierung bewährt sich hier aufs Nachdrücklichste. Und es gelingt ihm immer wieder auch, wenn er sich vordergründig "nur" mit einem Werk beschäftigt, wie etwa Beethovens Opus 131, das Persönlichkeitsbild des dahinter stehenden schöpferischen Menschen aufscheinen zu lassen.

Gülke wendet sich auch weniger bekannten Werken zu oder auch minder ernst genommenen Komponisten. Tschaikowskys letzte Symphonie erfährt genauso Gerechtigkeit wie das Fragment der Zehnten Symphonie Gustav Mahlers, und die "Vier ernsten Gesänge" von Johannes Brahms stehen neben Betrachtungen über die Lieder des außenseiterischen Franzosen Henri Duparc. Und wer sich über Schuberts "Winterreise" vom eminenten Schubert-Kenner Gülke tief und gründlich informiert fühlt (wie schon zu Beginn über das Wunderwerk des Streichquintetts), der muss es sich sozusagen auch gefallen lassen, auf die viel weniger bekannten Lieder Robert Schumanns nach Gedichten von Justinus Kerner gebracht zu werden.

Peter Gülke gelingt es auf engstem Raum, kristallin zusammenschießen zu lassen, was dem Leser sofort zusammengehörig erscheint, allerdings erst, wenn er die entsprechenden Passagen gelesen hat. So wachsen Purcells Dido, Janáčeks Katia Kabanova und Verdis Desdemona unter dem scheinbar banalen Gesichtspunkt, dass Frauen auf der Opernbühne anders sterben als Männer, eng zusammen. Und was er über Mahlers "Kindertotenlieder" zu sagen hat, ist insofern überraschend, als er selbst zu viel besprochenen Werken noch durchaus Eigenes beizutragen vermag.

Peter Gülke hat hier sein persönlichstes Buch vorgelegt. Es ist überreich an Einsichten, geschrieben in einer geschmeidigen Diktion, der man die Kunst des nie auftrumpfenden, aber immer bezwingenden Rhetorikers anmerkt. Die größte Leistung dieses Buches ist vielleicht dann doch, kein pathosumwölktes Mausoleum errichtet, sondern bei allem Gewicht der hier versammelten Exempel und Überlegungen ein gar nicht schwerfälliges Bündel von 54 essayistischen Aperçus versammelt zu haben .

© SZ vom 21.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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