"Abendland" im Kino:Niemand will den Wohlstand teilen

Europa ist eine Festung. Aufgebaut, weil sich der Wohlstand vielleicht nicht halten lässt, wenn man ihn mit allen Menschen teilte. Nikolaus Geyrhalter hat für seinen Dokumentarfilm "Abendland" faszinierende Orte auf dem ganzen Kontinent aufgesucht. Er richtet den Blick auf jene Menschen dies- und jenseits des Grenzzauns, die das Paradies durch ihr Anderssein vermeintlich gefährden.

Martina Knoben

Der Mann am Joystick betrachtet einen Film, fast so wie wir. Nur dass er sehr viel weniger sieht, lediglich "etwas Warmes", das sich bewegt - einen Hasen -, außerdem ein Patrouillenfahrzeug und viel Gras. Es ist bizarr, wie hier die Kamera ins Leere und Dunkle starrt. Sie überwacht eine nicht genannte Schengen-Außengrenze, wird ausgefahren aus einem Van, der mitten auf der grünen Wiese steht. Mit einem surrenden Geräusch schwenkt die Kamera hin und her, wird schließlich wieder eingefahren, der Van gestartet, aber er säuft erst mal gurgelnd ab, was einen komischen Kontrast abgibt: das klapprige Auto und die High-Tech-Wärmebildkamera darin.

Abendland

21 Drehorte und Mini-Erzählungen haben Geyrhalter und sein Cutter aus der Fülle des Materials ausgewählt, das der Regisseur zwischen Oktober 2008 und November 2010 drehte. Manche sind extrem öffentlich, wie das Münchner Oktoberfest.

(Foto: if... Cinema!)

Um das "Abendland" geht es in diesem Dokumentarfilm - unser Europa und seine Werte sowie die Festung, die daraus gemacht wurde, weil sich Wohlstand und Sicherheit vielleicht nicht halten ließen, wenn man sie mit allen Menschen teilte.

Nach den jüngsten Debatten um die Zukunft der Europäischen Union ist das ein hochaktuelles Thema, das Nikolaus Geyrhalter, der mit Michael Glawogger und Erwin Wagenhofer zu den bekanntesten österreichischen Dokumentarfilmern zählt, allerdings eher lyrisch als journalistisch angeht. Statt Fakten aufzuzählen und mit Argumenten zu jonglieren, evoziert er Stimmungen und montiert ein Bild Europas, das alles andere als eindeutig ist.

Schon der Titel "Abendland" lässt sich ja höchst unterschiedlich interpretieren. Man kann ihn wörtlich nehmen, weil Geyrhalter alle Episoden seines Films bei Nacht gedreht hat. Seine Impressionen legen aber auch den Gedanken an eine verdämmernde Zivilisationsform nahe, ein "Abendland", das sich selbst vielleicht noch für den Gipfel der Menschheitsentwicklung hält, aber längst schon versteinert ist in der Angst vor den "anderen".

Geyrhalter thematisiert von Anfang an auch das Sehen, den Blick auf diese "anderen", womit die Menschen jenseits des Grenzzauns gemeint sind, aber auch diejenigen, die das Paradies durch kriminelle Machenschaften oder auch nur durch ihr Anderssein von innen heraus gefährden.

Mehrfach im Film sind Überwachungs-Apparaturen zu sehen und die Bilder, die sie produzieren, etwa in der Leitzentrale der Londoner Videoüberwachung. Und gleich in der zweiten Episode, nach der bizarren Eröffnungssequenz, beobachtet Geyrhalter eine Gruppe von Roma, die ihr Lager räumen müssen und am nächtlichen Feuer nach Möglichkeiten suchen, wie die Familien zusammenbleiben können.

Was ein Leben wert ist, scheint in Europa, wie es Geyrhalter sieht, nicht eindeutig klar zu sein. Nicht viel offenbar im Fall der Roma-Familien - für andere dagegen wird ein immenser Aufwand getrieben. Von den Ruinen des aufgelösten Roma-Lagers schneiden Geyrhalter und sein Cutter Wolfgang Widerhofer auf eine Frühgeborenenstation in Wien, in der Hightech und Rund-um-die-Uhr-Fürsorge Menschen am Leben halten, die kaum größer sind als die Hände, die sie pflegen.

Kein Kommentar stört die optisch eindrucksvollen Szenen

21 Drehorte und Mini-Erzählungen haben Geyrhalter und sein Cutter aus der Fülle des Materials ausgewählt, das der Regisseur zwischen Oktober 2008 und November 2010 drehte. Es sind faszinierende Orte, die in der Nacht noch geheimnisvoller wirken. Manche sind extrem öffentlich, wie das Münchner Oktoberfest oder ein gigantischer Rave in den Niederlanden, andere den Blicken gewöhnlich entzogen, wie ein deutsches Krematorium, ein tschechischer Sexclub oder eine niederländische Telefon-Seelsorge.

Kommentiert werden die Episoden nicht. Sie sind optisch oft eindrucksvoll, in totalen Einstellungen gefilmt - Überblicksaufnahmen wie von außen. Aufgebrochen wird die Ruhe und Distanz, die solche Bilder vermitteln, wenn die Kamera mehrere Minuten lang einer Kellnerin mit mindestens zehn Hendln auf dem Tablett durch ein volles Wiesnzelt folgt oder auf die gleiche Weise die Menschenmenge des Rave durchschreitet.

Hier geht der Film auf Tuchfühlung mit uns Europäern - und was sieht er? Geistlosen Spaß und hemmungslosen Konsum - aber auch Sanitäter, die sich auf der Wiesn mit überraschender Fürsorge um Alkoholopfer kümmern. Um dieses Europa will man dann doch wieder kämpfen.

Montiert ist das Ganze im gleichen Essay-Stil wie frühere Geyrhalter-Filme, "Unser täglich Brot" etwa, 2005, über die industrielle Nahrungsmittelproduktion, oder "Elsewhere", 2001, über die Globalisierung. Seine Methode birgt immer die Gefahr der Beliebigkeit, der cleveren Montage von "Abendland" ist es jedoch zu verdanken, dass viel produktive Reibung zwischen den Sequenzen entsteht, diese einander ergänzen, in Frage stellen oder kommentieren. Was alles in der Begriffshülle "Abendland" steckt, wird auf diese Weise zumindest schon mal vorsortiert. Und Ordnung ist in Europa das halbe Leben, wie Geyrhalter in vielen seiner Episoden illustriert, die ums Versorgen und Entsorgen kreisen und um die Grenze, die die Gruppen trennt, die das eine oder das andere erleben.

ABENDLAND, Österreich 2011 - Regie, Kamera: Nikolaus Geyrhalter, Matthias Halibrand. Buch: Wolfgang Widerhofer, N. Geyrhalter, Maria Arlamovsky. RealFiction, 90 Minuten.

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