Wort des Jahres: Wutbürger:Bürger sein dagegen sehr

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Wie jedes Jahr hat die Gesellschaft für Deutsche Sprache ein Wort des Jahres gewählt - und wieder einmal bewiesen, dass die Jury gern politische Talkshows sieht.

Katharina Riehl

Welche Fragen in einem Jahr die Menschen wirklich bewegt haben, kann man zum Beispiel an den Themensetzungen politischer Talkshows ablesen. Oder, vielleicht korrekter, man kann daran ablesen, von welchen Themen die Journalisten glaubten, dass die Menschen sich besonders dafür interessieren müssten.

Sie wollten keinen Bahnhof, deshalb gingen die Stuttgarter in diesem Jahr auf die Straße: "Wutbürger" ist Wort des Jahres 2010. (Foto: Reuters)

So gab es in diesem Jahr wohl keine einzige Talksendung, die nicht zumindest einen Abend lang die Frage gestellt hätte, ob die deutsche Politik am Volk vorbeiregiere. Anders könne man ja nicht erklären, dass dieses Volk sich mit Flüstertüten auf die Straße stellen muss, um seiner Meinung Luft zu machen. Erst in dieser Woche waren es Heiner Geißler und Judith Holofernes, die darüber mit Maybrit Illner plauderten.

Davon ausgehend also, dass der deutsche Protest gegen Bahnhöfe, Raucher und Schulreformen tatsächlich das eine Thema war, das die Menschen 2010 beschäftigt hat, war die Wahl des aktuellen Wort des Jahres nur konsequent. Beziehungsweise verwundert es nicht, dass die Jury der Gesellschaft für Deutsche Sprache auf die selbe Idee kam wie die Planer von Talkshowthemen, als sie sich auf das Wort des Jahres 2010 einigten. Dem echten Volk aufs Maul zu schauen, wie man so schön sagt, ist ja auch ungleich komplizierter.

Es ist also der "Wutbürger" geworden, jene Neuschöpfung der Medien für all jene Hamburger, Stuttgarter, Münchner, die in diesem Jahr ihren bürgerlichen Haushalt verließen und mit Flüstertüte und viel Ärger bewaffnet gegen ihre Politiker auf die Straße zogen. Knapp hinter sich ließ der Wutbürger ein Wort aus der selben thematischen Ecke: "Stuttgart 21" kam auf Platz zwei, auf Platz drei - auch wenig überraschend - wählte die Jury aus Sprachwissenschaftlern das "Sarrazin-Gen". Auch Thilo Sarrazin war in diesem Jahr in vielen Talkshows zu Gast, und auch wenn er nicht da war, wurde viel und ausgiebig über seine Thesen zur vererbbaren Intelligenz gesprochen.

Seit 1971 vergibt die Gesellschaft für Deutsche Sprache nun diese Auszeichnung zum Wort des Jahres, im vergangenen Jahr siegte die "Abwrackpämie", im Jahr davor die "Finanzkrise". Alle diese Wörter haben die Deutschen in jenen Jahren wahrscheinlich mal benutzt. Oder zumindest haben sie im Fernsehen gesehen, wie andere sie benutzt haben. Und für eine gesellschaftliche Diagnose reicht das anscheinend schon.

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