Stuttgart 21:Die Aufregung ist wichtig

Die großen Fragen der Bürgergesellschaft: Warum es bei dem Streit um "Stuttgart 21" um mehr geht als ein paar Minuten Zeitersparnis, eine Dauerbaustelle oder eine bessere Verkehrsanbindung.

Christian Illies

Die Wut der Menschen, die in Stuttgart gegen das große Bahnprojekt "Stuttgart 21" demonstrieren, wirft die Frage auf, warum Architektur erst seit einigen Jahren dieses politische Potential besitzt, nachdem die radikale Umwandlung der meisten Stadtstrukturen in Deutschland längst abgeschlossen ist. Wieso lassen sich heute Zehntausende mobilisieren, um mit Kerzen vor Bauzäune zu ziehen, während sie stumm blieben, als in den sechziger und siebziger Jahren ganze Städte radikal umgewandelt wurden?

Stuttgart 21 - Proteste

Demonstration gegen "Stuttgart 21". Warum schlagen die Wellen so hoch?

(Foto: dpa)

Wäre es nur der Protest gegen die Monotonie moderner Architektur, dann müssten die Demonstrationszüge auf die Gleisanlagen hinter dem Stuttgarter Bahnhof führen, auf denen ein Stadtviertel geplant wird, das in vieler Hinsicht nahtlos an die banalen Monstrositäten der 1960er-Jahre anzuschließen scheint. Aber der Protest entzündet sich jetzt am Abriss des Bahnhof-Nordflügels und an den Bauplänen des Architekten Christoph Ingenhoven, die für den neuen Hauptbahnhof eine schöne, lichtdurchflutete Haupthalle und einen vitalen öffentlichen Raum erwarten lassen.

Was bewegt die Menschen, was weckt ihre Leidenschaften mit einer solchen Heftigkeit, dass Planer wie Politiker wie von einem Platzregen überrascht werden? Was sich beim erbitterten Streit um das Berliner Stadtschloss und um die Waldschlösschenbrücke in Dresden erstmals Bahn brach, hat nun mit Stuttgart das Herz der alten Bundesrepublik erreicht.

Wenn wir die moralische Aufladung der gegenwärtigen Architekturdebatten ernst nehmen, dann wird ein tieferer Grund für diese Reaktionen deutlich: Solche moralische Aufladungen kennen wir vornehmlich beim Aufeinanderprallen von Weltbildern, also etwa bei Diskussionen um Schulpolitik oder Gerechtigkeitsfragen. Das legt nahe, auch bei den Architekturdebatten weniger einen ästhetischen Dissens als einen grundsätzlichen Streit um unser gesellschaftliches Selbstverständnis zu vermuten.

Denn Architektur ist ein öffentlicher und offensichtlicher Ausdruck dessen, wie sich eine Gesellschaft versteht; wie wir bauen, zeigt, was uns wichtig ist und was wir wollen. Es geht also auch hier ums (weltanschaulich) Eingemachte - und in der gebauten Form werden die konkurrierenden Vorstellungen viel deutlicher und greifbarer als in abstrakten Argumenten oder Parteiprogrammen. Flugblätter kann man zum Altpapier geben, aber Häuser sind Ideologien, in denen Menschen leben müssen. Deswegen ist das Ringen um die Baugestalt der Städte dann besonders heftig, unversöhnlich und moralisch aufgeladen, wenn eine Gesellschaft vor großen Veränderungen und Unsicherheiten steht, die ein neues Weltbild erfordern. Und das ist heute der Fall.

Martin Heidegger, dessen Einfluss auf die Philosophie der Architektur kaum überschätzt werden kann, hielt 1951 einen dunklen Vortrag mit dem Titel "Bauen Wohnen Denken". Auch wenn seine Kritik an der Moderne und sein Plädoyer für traditionelle Bauformen mehr Fragen aufwerfen als beantworten, hat er den Zusammenhang zwischen der Weise, wie wir bauen, welche Form des Wohnens dort möglich ist und wie wir die Welt und uns selbst denken, auf den Punkt gebracht.

Die noch junge Architektursoziologie, wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem von Joachim Fischer und Heike Delitz vertreten wird, hat diese Deutungskraft der Architektur für den Teilbereich gesellschaftlicher Selbstbestimmung luzide gemacht. Hier wird die Architektur als zentraler symbolischer Ausdruck einer Gesellschaft verstanden, in der sich diese aber zugleich erfindet und eine bestimmte Lebensform konstituiert. In der Bauweise gewinnt das Imaginäre einer Zeit Gestalt, also das, was sie sein könnte oder idealerweise sein will. Architektur ist unübersehbar und kommuniziert so deutlicher als andere Medien diese Vorstellungen.

Joachim Fischer spricht treffend von einer "Sinnofferte", die zugleich eine Stellungnahme des Betrachters und Benutzers eines Bauwerks einfordert. Gebäude legen zum Beispiel die Differenzierung von Funktionen nahe, sie ziehen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, sie bestimmen Bereiche von Arbeit, Freizeit und Konsum. Unterschiede zwischen sozialen Schichten werden baulich betont oder nivelliert, Dinge ins Zentrum gestellt oder an die Peripherie gedrängt und nicht zuletzt Machtverhältnisse ermöglicht und manifestiert. Und auch der Umgang mit der Vergangenheit nimmt hier Gestalt an, mit ihren Stilen ebenso wie mit ihren Denkmälern.

Es hat lange gedauert, bis die Bürger erkannt haben, dass in der Architektur die großen Fragen einer modernen Bürgergesellschaft mitentschieden werden. Es geht also nicht um ein paar Minuten Zeitersparnis, um eine Dauerbaustelle oder um eine bessere Verkehrsanbindung. Was in Stuttgart (in Dresden, in Berlin, in Hamburg) die Menschen heute erregt, ist daher nichts weniger als die Frage nach der Gesellschaft, in der wir leben wollen, und dem Weltbild, welches dahintersteht. Diese Frage stellt sich heute dringlicher als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die schreckliche Vergangenheit der Imagination einer besseren Gesellschaft wenigstens die grobe Richtung vorgab. Und sie stellt sich heute grundsätzlicher als zuvor - es gibt eben keine historischen Vorbilder für multikulturelle und hochtechnisierte Industriegesellschaften in einer globalisierten, von ökologischen, ökonomischen und politischen Krisen bedrohten Wirklichkeit.

Wir müssen selbst entscheiden, wie viel Mobilität wir benötigen und was wir bereit sind, dafür zu zahlen. Ist die "Sinnofferte" der Bahn AG also eine Chance oder eine Bedrohung? Hat das technisch Machbare noch einen Sinn und Nutzen oder wird es zu einem Selbstzweck? Wie gehen wir mit dem Alten um und was kann und darf bestehen bleiben? Es geht um Entscheidendes, und da fast alle diese großen Fragen beim Projekt "Stuttgart 21" wie in einem Brennglas gebündelt werden, verwundert es nicht, dass viele leidenschaftlich entbrannt sind.

Der Autor ist Professor für praktische Philosophie an der Universität Bamberg und arbeitet zu Fragen der Philosophie der Architektur. Zuletzt erschien von ihm bei Suhrkamp "Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter".

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