Prostitution:Billiger Sprit, billiges Essen, billiger Sex

Der Sex-Tourismus an der deutsch-tschechischen Grenze zieht inzwischen übersättigte Freier an, die "etwas Junges" suchen. Schließlich, so die Illusion, seien Kinder ja seltener mit HIV oder Hepatitis infiziert.

SONJA ZEKRI

Eine Zeit lang galt Kinderkleidung im Fenster als Signal. Oder ein Kinderwagen vor dem Haus: Als Zeichen für die Männer in den Mittelklassewagen, die aus Sachsen, Bayern oder dem Rest der Republik über die Grenze nach Tschechien fuhren. Nach Cheb, As oder Karlovy Vary und in all die anderen Orte, die Tschechien in den letzten Jahren in eine Art Thailand unter den EU-Beitrittskandidaten verwandelt haben, in eine Region, die der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz das "größte Freiluftbordell Europas" nennt. Manchmal erreicht die Karawane aus Deutschland Konvoistärke; ein Kleinbus reiste mit der Aufschrift "Ficken-Tour 2002" ein, hat Gallwitz einmal geschrieben. Tschechien, das Billigsexland, das jeden Wunsch erfüllt: auch den nach Verkehr mit Kindern. Zu erkennen an den Hemdchen im Fenster.

Prostitution: "Fahren Sie mal nach Teplice bei Dresden. Da stehen die Frauen in Unterhosen in Glaskästen und tanzen."

"Fahren Sie mal nach Teplice bei Dresden. Da stehen die Frauen in Unterhosen in Glaskästen und tanzen."

(Foto: Foto: dpa)

Außer dem Sextourismus blüht nicht viel im tschechischen Grenzland. Das tausendjährige Cheb beispielsweise, das einstige Eger, ist stolz auf seine zauberhafte Altstadt mit den verwinkelten Gässchen, der Burg und einem Marktplatz voller schmalbrüstiger brausebunter Häuser, von denen eines das Totenlager Wallensteins war. Aber um die Idylle erstreckt sich eine Wüste der Trostlosigkeit mit Aldi-Bunkern, Platten, Industriebrachen und bröckelnden Altbauten. In der Fahrradfabrik waren mal 500 Leute beschäftigt, das war viel für eine Stadt mit 37 000 Einwohnern. Jetzt ist die Fabrik geschlossen, dafür, so schätzt die Stadt, arbeiten 400 Menschen im "Colibri", im "007" oder in den Escort-Agenturen. Und die Frauen, die auf dem Straßenstrich an der Wolkerova hinter dem Bahnhof von einem Bein aufs andere treten und deutschen Autos zuwinken, mittags um zwölf genauso wie nachts um elf, wenn die Vietnamesen vom Dragon-Markt ihre Trikots und Rucksäcke längst eingepackt haben, diese Frauen tauchen in der Schätzung nicht einmal auf.

Im Moment ist der Konvoi ausgedünnt, es ist Winter, es sind zu viele Journalisten unterwegs, und die Polizei fährt häufig Streife. Das Geschäft mit den Minderjährigen, sagen die Experten, habe sich in die Wohnzimmer und Bordelle zurückgezogen, wenn es nicht völlig zum Erliegen gekommen sei. Den Grund dafür findet man sechzig Kilometer nördlich, im sächsischen Plauen. Dort gibt es auch eine schöne Altstadt, aber schräg gegenüber vom Spitzenmuseum liegt jene Einrichtung, die ganz Tschechien in Rage versetzt hat: "Karo", ein Sozialprojekt für Prostituierte an der deutsch-tschechischen Grenze. Die Leiterin ist die Sozialarbeiterin Cathrin Schauer, die ein Buch geschrieben hat mit dem Titel "Kinder auf dem Strich", in dem sie über die Prostitution Minderjähriger berichtet, auch über die Sache mit der Kinderkleidung. Ende Oktober hat Unicef den Report vorgestellt, als Schirmherrin trat Christina Rau auf, und seither verbringt Cathrin Schauer einen Großteil ihrer Zeit damit, Interviews zu geben. Gerade packt Focus-TV zusammen, Schauer ist müde und ziemlich unwirsch. Mit Journalisten nach Cheb zu fahren, komme nicht in Frage bei diesem "Medienrummel" - als hätte sie die Öffentlichkeit nicht selbst gesucht.

Schauer hat von Müttern geschrieben, die Freiern Säuglinge ins Auto reichen, von Männern, die Kinder nackt an ihren "Stichplätzen" aussetzen, und von Jungen wie dem 13-jährigen Petr, der sich seine Zukunft so vorstellt: "Ich werde Zuhälter, dann schaffe ich mir drei bis vier Frauen an, die für mich arbeiten."

500 sexuell ausgebeutete Kinder habe sie in den sechs Jahren ihrer Arbeit getroffen, sagt Schauer, vierzig von ihnen habe sie befragt. "500 Kinder in sechs Jahren, das ist doch nicht viel." Schauer zählte auch Jugendliche hinzu, die jünger als 18 Jahren waren. In Tschechien aber ist der Missbrauch von Kindern unter 15 Jahren strafbar, und dies ist nicht die einzige Irritation. Das Buch ist keine wissenschaftliche Studie und keine quantitative Statistik, sondern das geschickt positionierte Spaltprodukt einer Sozialarbeit, dessen Kernaussage Schauer vor zwei Jahren schon einmal vorgestellt hat.

Nun fordert Tschechiens Innenminister Stanislav Gross Beweise von "Karo" (SZ vom 8. November). Alles sei nur PR, weil die EU-Förderung für das Projekt 2004 auslaufe, sagen andere. Pavla Gomba, die Leiterin der Unicef-Zentrale in Prag, bemerkt dagegen: "Kinderprostitution beschränkt sich nicht auf Cheb. Tschechische Medien haben wiederholt über Strichjungen am Prager Bahnhof berichtet." Doch welches Ausmaß der Missbrauch hat, weiß niemand. Vielleicht höher als Schauers Zahlen, sagen Kinderschutzorganisationen. Ganz sicher niedriger, die tschechischen Behörden. Jirí Strádal, der Sprecher der Stadt Cheb, gibt zu: "Ja, wir haben ein Problem mit der Prostitution. Und niemand kann bestreiten, dass einige Prostituierte jünger sind als fünfzehn Jahre." Strádal ist ein sympathischer Schlacks und stapelt in seinem Büro aprikotfarbene Hüllen für die neue Imagebroschüre. "Einen einzigen Fall von Kinderprostitution hat unsere Polizei im vergangenen Jahr aufgegriffen. Und was die Prostitution angeht: Das ist doch viel besser geworden", sagt er: "Fahren Sie mal nach Teplice bei Dresden. Da stehen die Frauen in Unterhosen in Glaskästen und tanzen. Dagegen ist unsere Stadt ein Märchen!"

Cheb im Pech. Der Ort ist - wie die gesamte EU-Ost-Grenze - nur Schauplatz für die Kollision zweier Welten: Hier trifft der reiche Westen auf den verarmten Osten, hier begegnen sich ein absoluter Konsumanspruch und ein totales Angebot, preisbewusste Freier und Frauen aus der Slowakei oder Bulgarien, die auf ihrem Weg ins Paradies an den Klippen des Wohlstandsgefälles gestrandet sind, vielleicht in irgendeinem Motorrest an der E 49 Richtung Karlsbad, wo die Elendsbebauung der Nonstop-Hotels nur durch Gartenzwerg-Stände unterbrochen wird. Clubs und Zwerge, Clubs und Zwerge. Kilometerlang.

Im Internet tauschen die deutschen Kunden Erfahrungen aus wie Heimwerker-Zirkel und pochen auf ihre Verbraucherrechte: "30 oder 60 Minuten bezahlt und nach 10 Minuten alles vorbei. Diese Geldschneiderei brauchen wir uns als zahlende Gäste nicht gefallen zu lassen!! Ich rufe daher zum Boykott auf, bis die sich wieder auf Gastfreundschaft besinnen!" Manchmal reisen Ehepaare nach Tschechien. Sie geht zum Friseur, er besucht eine Prostituierte. Billiger Sprit, billiges Essen, billiger Sex, so Strábal, das sei das "klassische" Programm.

So ist es nach Meinung von Adolf Gallwitz auch kein Zufall, dass die Berichte über Kindesmissbrauch gerade hierher kommen. Der Sex-Discount ziehe Freier an, die Gallwitz "promiske Erlebnistouristen" nennt, übersättigte Gelegenheitstäter, die jeden Reiz ausprobiert haben und nun "etwas Junges" suchen, schließlich, so die Illusion, seien Kinder ja auch seltener mit HIV oder Hepatitis infiziert. Die Täter sind keine scheuen Pädosexuellen, sondern normale Männer. Die Ächtung von Kindesmissbrauch ist ein Lippenbekenntnis. Das letzte, das größte Tabu unserer Gesellschaft - ist keines. Die Verfolgung der Täter bleibt hingegen schwierig. Zwar ist der Missbrauch durch Deutsche auch im Ausland strafbar, aber Kinder sind ungeeignete Zeugen, und die deutsche Polizei kann in Tschechien schlecht ermitteln.

Aber warum überhaupt Tschechien? Warum hat man im Bundesinnenministerium noch nie von Kinderprostitution an der Grenze zu Polen gehört? Gewiss, auch in Polen blühen Menschenhandel und Prostitution, auch hier operieren Schleuserbanden, wie der jüngste Prozess gegen jene Menschenhändler beweist, die auch Frauen für "Paolo Pinkel" alias Michel Friedman beschafften. In Tschechien sind oft Roma-Kinder betroffen, was die ganze Sache noch schwieriger macht: Sozialarbeit für die ungeliebte Minderheit sei gesellschaftlich schwer durchsetzbar, so Mechthild Maurer, die Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Ecpat Deutschland. Zudem ist Polen katholisch, vierzig Prozent der Tschechen sind dagegen atheistisch, da mag manches leichter sein oder auch nur unverblümter geschehen. Doch auch in Tschechien hat sich einiges getan. Erst vor kurzem hat die Polizei eine Razzia in 400 Bordellen durchgeführt. Kann es sein, dass die Berichte aus Tschechien nur deshalb so unglaublich klingen, weil Polen nie untersucht wurde? Absolut, sagen die Experten.

Nur ein paar Monate noch, dann werden Cheb und Teplice zur EU gehören, und die Freier werden nicht nur ein moralisches Problem für Deutschland darstellen, sondern auch ein juristisches. Und dann? Die Kunden werden sich leichter bewegen, sagt Adolf Gallwitz. Der Grenzverkehr werde reibungsloser ablaufen, das Wohlstandsgefälle bleibe, das Elend nehme kurzfristig zu. Die Kinder werden sich einfacher bewegen, sagt Mechthild Maurer. Irgendwann tauchen sie wohl am Bahnhof Zoo auf. Schon heute werden Kinder aus Osteuropa nach Paris geschafft: Menschenhandel ist Globalisierung in ihrer radikalsten Form.

Langfristig aber wird sich der Lebensstandard angleichen, deutsche und tschechische Polizisten können die Täter gemeinsam jagen. Das Wohlstandsgefälle wird sich verlagern wie eine Gewitterfront - und mit ihm die Clubs. Nach Osten, zu den neuen Rändern der EU.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: