Peter Handke: Der große Fall:Zurück zur Zivilisation

"Ausgerenkt an Leib und Seele": Der poetische Amokläufer Peter Handke sucht in seinem neuen Buch "Der Große Fall" die Wiederannäherung an die Gesellschaft.

Christopher Schmidt

Es sei seine erste "Zentrumswanderschaft seit Jahren", heißt es in Der Große Fall über den Schauspieler, von dem Peter Handke in seinem neuen Buch erzählt. Es ist die Geschichte eines einzigen Tages im Leben dieses Schauspielers, der am Morgen zu einer langen Wanderung aufbricht und erst spät in der Nacht innehält. Sein Weg führt ihn zunächst "querwaldein", von der Peripherie ins Zentrum einer großen Stadt, die unschwer als Paris zu erkennen ist - und damit zurück in jene Zivilisation, die er offenbar lange gemieden hat.

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Peter Handke hat sich in seinen vorhergehenden Büchern weit hinausgeschrieben aus der lärmenden Gegenwart und tief hinein in die Ortlosigkeit erinnerter oder imaginierter Seelenlandschaften.

(Foto: AFP)

Dabei muss man sich den Rückzug aufs Land nicht allein als eine räumliche Bewegung vorstellen, sondern auch als eine ideelle, die den Schauspieler als Stellvertreter des Dichters ausweist, "das Mehr an weniger Ich", wie dieser schreibt. Denn auch Peter Handke selbst hatte sich in seinen vorhergehenden Büchern weit hinausgeschrieben aus der lärmenden Gegenwart und tief hinein in die Ortlosigkeit erinnerter oder imaginierter Seelenlandschaften, um sich zu dem zu machen, was Kierkegaard einen "Auswanderer aus dem Land des Allgemeinen" nennt, einen Einzel- und Grenzgänger, einen Desperado recht eigentlich, dessen gesetzlose Wahrheit mit dem gesellschaftlichen Konsens nicht zu vermitteln ist.

In seinem neuen Buch aber sucht er die Wiederannäherung an die Gesellschaft, die Rückkehr in die soziale Realität und ihre Brennpunkte. Dass Handke diese Geschichte einer Zurückeroberung des Urbanen, die auch der Versuch einer scheuen Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist, nicht aus der Perspektive eines Schriftstellers, sondern aus dem Blickwinkel eines Schauspielers schildert, hat seinen guten Grund: Schließlich gebe es niemanden, "der im Leben weniger Rollenspieler" ist und zugleich in all seiner Ungeschütztheit und Durchlässigkeit reizbarer für den inszenatorischen Charakter des Stadtraums und seiner Bewohner, in denen er nichts als feste Rollentypen sieht.

Denn Der Große Fall ist auch eine Geschichte über eine berufliche Krise. Der Schauspieler tritt schon seit Jahren nicht mehr auf, nicht weil es nicht genug Rollen gäbe, sondern weil es keine Geschichten, keine Offenbarungen mehr zu erzählen und zu erleben gilt. Zugleich bietet die Figur des Schauspielers, der am Abend der Erzählung mit einem Preis geehrt und am nächsten Tag die Rolle eines Amokläufers in einem Film spielen soll, Handke die Möglichkeit zur Selbstdistanz; sie erlaubt es ihm, den eigenen Kulturpessimismus spielerisch zu verflüssigen und milde seine Idiosynkrasien zu parodieren.

So wird das Morgengewitter, das ihn aus dem Schlaf weckt und ihm Vorzeichen eines großen Tages voller Heldentaten zu sein scheint, als billiger Theaterdonner nur mehr autosuggestiver Daseinsemphase ironisiert. Die kleinen Besorgungen und Hausarbeiten wiederum, die der Schauspieler noch erledigt, bevor er das Haus seiner Geliebten verlässt, das Einkitten einer neuen Fensterscheibe, das Rechen des Kieses vor der Tür - sie haben durchaus etwas von Übersprungshandlungen, als zögere da einer den Gang in die Stadt hinaus, im Wissen, dass es ein schwerer Gang wird.

Und die kleinen Missgeschicke und Unfälle, die ihm dabei widerfahren - zeugen sie nicht von dem Lampenfieber, das ihn befällt, bevor er die Bühne des Welttheaters betritt? Ehe er das Haus verlässt, setzt er sich noch einen zu großen Hut mit löchriger Krempe auf, steckt eine Falkenfeder hinein und macht sich so geschmückt - halb Glücksritter und halb Vogelscheuche - auf den Weg.

Peter Handke schickt seinen zartkomisch-spinösen Helden auf eine phänomenologische Donquichotterie voller Epiphanien des Zufalls und Aventüren der Innerlichkeit. Da wird der Wald zu einer Schule der Wahrnehmung, wenn der Wanderer einen "Irrtumslehrpfad" wider alle Trimm- und Lehrertüchtigungen herbeiphantasiert, auf dem es lauter täuschende Ähnlichkeiten zu bestaunen gibt. Eine schwarze Trüffel entpuppt sich als Wildschweinkotkugel, auf dass "der Blitzmoment, der die Erkenntnis des Irrtums begleitet", den Blick schärft, und ein Baumstrunk verwandelt sich in einen Migranten, Aussiedler aus einem östlichen Land.

Je näher der schweifende Rhapsode des selig Nutzlosen und durch seine Profanität Geheiligten der Stadt kommt, desto mehr sieht er sich mit den apokalyptischen Ausläufern einer "Endzeit" konfrontiert, die allein von Feindseligkeit, Gewalt und Entfremdung beherrscht wird, einer Realität, die abwechselnd das Gewaltpotential und das Helfersyndrom in ihm wachruft. Von ihrem Fluch, so muss er einsehen, kann er die sündige Stadt nicht erlösen. Doch der geschärfte Blick, in den dieser zivilisationsmüde, ausgewilderte Asphaltindianer die entzauberte Welt nimmt - er hat durchaus etwas von einem Amoklauf, allerdings nicht der blindwütigen Gewalt, sondern der hellsichtigen Poesie.

"Ausgerenkt an Leib und Seele", das beschreibt nicht nur das Verhältnis des Schauspielers zu der Frau, bei der er die vorhergehende Nacht verbracht hatte, sondern auch den Zustand der Menschheit vor dem "großen Fall". Was dieser große Fall ist, der seinem Buch den Titel gibt, sagt Peter Handke nicht. Und doch könnte es sein, dass wir ihn bereits hinter uns haben.

PETER HANDKE: Der Große Fall. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 280 Seiten, 24,90 Euro.

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