Nicholson Bakers neuer Roman "House of Holes":Alice im Liebesland

Literatur trifft Pornographie: Nicholson Baker schafft in seinem neuen Roman "House of Holes" eine surreale Welt der Sexualität im ständigen Wandel. Je länger der Leser allerdings mit der heiteren Parade fetischisierter Körperteile konfrontiert wird, desto mehr spürt er die eigentliche Melancholie des Autors.

Thomas Steinfeld

Zu den vielen wunderlichen Einrichtungen, von denen Nicholson Baker in "House of Holes", seinem jüngsten, in dieser Woche in den USA erschienenen Roman (Simon and Schuster, 262 Seiten, 25 Dollar) erzählt, gehört ein Einsatzkommando, die "pornsucker squadron". Das Wort ließe sich mit "Pornosaugerstaffel" übersetzen, wenn der "sucker" nicht auch ein "Trottel" oder ein "Verlierer" wäre. Die Staffel tritt in Aktion, wenn sich in einem imaginären Klärbassin große Klumpen von schlechter Pornographie bilden. Sie werden dann verdünnt, in Baltimore zum Beispiel, wo die Lage bedrohlich zu werden scheint.

Giovanni Giacomo Casanova

Kunst und Sexualität: Der schmale Grat zwischen dem Begehrenswerten und Monströsen. Im Bild: Giovanni Giacomo Casanova (1725 - 1798), Abenteurer, Schriftsteller und Frauenheld, bei einem seiner Liebesabenteuer.

(Foto: SZ Photo)

Eine vermeintlich kindliche, knabenhafte Phantasie bricht sich in solchen Bildern Bahn, eine Freude am absurden Spiel mit Wörtern, Dingen und abenteuerlichen Geschichten. Dieses Bild aber ist besonders treffend: Denn eine Art "pornsucker squadron" will Nicholson Baker offenbar selber sein. Es scheint keinen Zweifel geben zu können: Das "Haus der Löcher" ist ein pornographisches Werk. Aber es ist beherrscht von der Idee, Pornographie müsse nicht gut (wie wollte man hier Maßstäbe der Qualität geltend machen?), aber lustig und, wenn es denn überhaupt möglich ist, gutmütig sein.

Nicholson Baker ist ein Schriftsteller von vielen Talenten: Er hat einen Roman über die Mittagspause geschrieben ("Die Rolltreppe", 1991) und einen über den Versuch, das Leben zu verlängern, indem man früher aufsteht ("Eine Schachtel Streichhölzer", 2004). Er hat, in einer gigantischen Unternehmung, die Geschichte der amerikanischen Zeitungen vor den Bibliothekaren gerettet ("Der Eckenknick", 2005), und er hat, in seiner Dokumentation "Menschenrauch" (2009) das Interesse festgehalten, dass auch Großbritannien und die Vereinigten Staaten am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten.

Berühmt geworden ist er allerdings durch zwei Liebesromane, in denen es ausführlich um Sexualität geht: Das Buch "Vox" (1992), in dem sich zwei Menschen durch Telefonsex näherkommen, und "Die Fermate" (1994) - und auch dieses Werk ist das Manifest einer knabenhaften Phantasie. Es erzählt von einem jungen Mann, der mit einem Fingerschnippen alle Bewegung anzuhalten vermag und diese Fähigkeit altersgemäß nutzt - bis er eine Geliebte findet. Das "House of Holes" ist anders: Es wird von (fast) keiner Geschichte zusammengehalten, sondern besteht aus zwei Dutzend Szenen, in denen es fast ausschließlich um den Beischlaf in allen Varianten geht.

Der schmale Grad zwischen Kunst und Pornographie

Zwischen Kunst und Pornographie verläuft eine scharfe Grenze. Denn wo jene nicht nur den Genuss, sondern auch das Nachdenken verlangt, nicht nur die Leidenschaft, sondern auch das Urteil, arbeitet diese entschlossen an der Aufhebung aller Distanz. Das Betrachten gehört zur Kunst, das Glotzen, Spannen, Starren zur Pornographie. Aber es kann sich darüber nicht beruhigen. Es mag in das Bild (und es ist meistens ein solches) einzudringen versuchen, wie es will: Das Bild bleibt immer fremd, immer fern.

Das ständige Verlangen nicht nur nach Wiederholung, sondern auch nach Verschärfung des Reizes gehört daher zu den Voraussetzungen der Pornographie. Sie will immer mehr: mehr Frauen, mehr Männer, größere Brüste, dickere Lippen, mächtigere Glieder. Weil aber das Mehr nur Grade kennt und keine qualitativen Unterschiede, verkennt es den Umschlag ins Groteske, den es selbst provoziert. Der Übergang ins Monströse ist dann schnell vollzogen - ganz abgesehen davon, dass die Gegenstände der Begierde ihren Charakter ändern, wenn man ihnen zu nahe rückt: Am Ende geht es dann doch nur um ein Stück Fleisch.

Gewaltiges Repertoire an sexuellen Figuren

Nicholson Baker weiß um diesen Übergang, er kennt ihn genau - so, sehr, dass alle Szenen dieses Buches auf dem schmalen Grat spielen, den es zwischen dem noch Begehrenswerten und dem schon Monströsen gibt. Und dort gibt es dann den frei flottierenden Arm, einen Meister der Liebkosung, den sein ehemaliger Besitzer gegen einen größeren Penis getauscht hatte, und es gibt die schönen, muskulösen männlichen Körper, denen vorübergehend und aus guten Gründen der Kopf abhandenkam, und es gibt den Strohhalm, der sich plötzlich als männerverschlingende Vagina entpuppt.

Ein gewaltiges Repertoire an sexuellen Figuren bietet Nicholson Baker in diesem Buch auf, und sie dienen, wie die Embleme des Barock, der Überführung von etwas Göttlichem auf den Menschen. Diese Göttliche ist hier: das Leben der Geschlechter, zumindest scheinbar freundlich betrachtet und gerechten Sinnes gegenüber Männern wie Frauen.

Damit dieses Spiel auf dem Grat funktioniert, muss Nicholson Baker alle Bindungen an die empirische Wirklichkeit kappen. Das "House of Holes" ist ein Buch der Verwandlung, und wenn es auch manchmal den sexuellen Bekennerbriefen in Herrenmagazinen nahezustehen scheint, so ist die Verwandtschaft mit Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" doch enger, von plötzlichen Abstürzen in Löchern angefangen bis hin zur Idee eines Hauses mit unendlich vielen Türen, hinter denen sich jeweils ein anderer Traum verbirgt.

Und die Metamorphosen sind in Sprache gegründet, in einer ebenso technisch wie anatomisch inspirierten, surrealen Sprache, die alle Verwandlungen durcheinanderwirft, so als gälte es, den "Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch unter den medialen Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts neu zu inszenieren.

Dass dieses Verfahren nicht nur zu behaglichen Ergebnissen führt, bemerkt der Leser daran, dass er den ersten Geschichten gerne folgt, für die letzten aber schon Disziplin braucht: Es erschöpft sich nicht nur das Prinzip der Verwandlung, sondern auch das Mehr der Pornographie.

Außerdem wächst der Verdacht, dass sich hinter dieser heiteren Parade von fetischisierten Körperteilen und physisch fragmentierten menschlichen Begegnungen noch etwas anderes verbirgt - ein zumindest melancholischer Blick auf eine Kultur, die solche Trennungen hervorbringt.

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