Netz-Depeschen:Suchabstinenz

Mehr als 90 Prozent der Internetnutzer kennen bestimmte, den Alltag erleichternde Tastenkombinationen nicht und schlagen sich mit eigens entwickelten Methoden durch, voller Kreativität und Tatendrang. Von der Fähigkeit zur Inkompetenzkompensationskompetenz.

Niklas Hofmann

Daniel M. Russell bezeichnet sich selbst als "Such-Anthropologen". Er beobachtet Menschen in ihrem Zuhause dabei, wie sie das Internet nutzen, und vor allem, wie sie dort suchen - Feldforschung für seinen Arbeitgeber Google. Mit ihm hat jüngst der Atlantic-Blogger Alexis Madrigal gesprochen und ist über eine Zahl sehr ins Staunen geraten. Nach Russells Erkenntnissen - er stützt sich dabei auf ein Sample von mehreren tausend Personen - wissen 90 Prozent der amerikanischen Internetnutzer nicht, dass sie mit der Tastenkombination Strg+F (oder Cmd+F auf einem Apple-Rechner) in einem Textdokument oder auf einer Internetseite nach Wörtern suchen können. Wenn er seinen Studienobjekten schließlich den kleinen Trick enthülle, seien diese oft wie vor den Kopf geschlagen und könnten "gar nicht glauben, wie ich mein Leben vergeudet habe!"

Auf direktem Weg zum Ziel: Tastaturkürzel für PC und Mac

Auf direktem Weg zum Ziel: Tastaturkürzel für PC und Mac, mit denen sich gewünschte Funktionen ausführen lassen.

(Foto: dpa-tmn)

Viele von Madrigals Lesern wandten ein, es gebe schließlich nicht nur den Strg+F-Shortcut, sondern auch einen Suchbutton in der Browserleiste, den die Mehrheit dann wohl benutze. Russells Forschung aber besagt tatsächlich, dass all jenen Nutzern überhaupt keine Form der Textsuchfunktion bekannt ist. In seinem eigenen Blog "SearchReSearch" hat er darüber schon vor anderthalb Jahren berichtet. Längere Dokumente muss die Masse der Nutzer demnach komplett lesen, zumindest aber überfliegen, um herauszufinden, ob für sie relevante Themen dort zu finden sind. Die sich schlauer wähnende Minderheit blickt kopfschüttelnd in einen Abgrund. Eine Kulturtechnik, die ihnen für den zeitlich effizienten Umgang mit dem Internet (aber auch von Textverarbeitung) so unerlässlich scheint wie Inhalts- und Schlagwortverzeichnisse für die Nutzung von Sachbüchern, ist einer übergroßen Mehrheit schlicht nicht geläufig. Alexis Madrigal fordert denn auch allenfalls halb im Scherz "sofort eine neue Art von Unterrichtsfach in den Schulen im ganzen Land. Elektronische Alphabetisierung."

Aber vielleicht hat das Ganze auch eine andere Seite. Vor einiger Zeit berichtete der Journalist Felix Knoke bei Spiegel Online vom idiosynkratischen Umgang seines 71-jährigen Vaters mit dem Computer. Um eine Liste aller Dateien auf einer Diskette auszudrucken, ging der folgendermaßen vor: "Er öffnete die Diskette im Windows Explorer, machte ein Bildschirmfoto des ganzen Bildschirms, speicherte es in einem Bildbearbeitungsprogramm ab, importierte es in die Textverarbeitung Word, druckte es aus, scannte den Ausdruck im Scanner ein, ließ eine Texterkennung über das eingescannte Dokument laufen und wollte den so erzeugten Text dann wieder in Word bearbeiten, um das fertige Dokument auszudrucken und abzuheften."

Natürlich war das schrecklich umständlich, aber, das musste Knoke einräumen, von seinem Vater, dem Computer-Autodidakten, auch nicht falsch gedacht. Beim Philosophen Odo Marquard hat er dafür den Begriff der Inkompetenzkompensationskompetenz entlehnt. Laienhafte Lösungen, wie die seines Vaters wären demnach kein Scheitern, sondern zeugten "von Kreativität und Tatendrang bei begrenzten Ressourcen". So gesehen wäre dann aber auch in den Taktiken, mit denen sich die 90 Prozent Suchabstinenzler durch das Netz wurschteln, eine ganz eigene Weisheit verborgen.

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