Musik förderte Zerfall der Sowjetunion:Hymnen der Freiheit

Das geistige Klima des Aufbruchs: Als Michail Gorbatschow vor zwanzig Jahren den Putsch der Sowjet-Apparatschiks abwehren konnte, dann lag das auch an der sowjetischen Rockmusik. Diese stand international zwar im Schatten der Scorpions und ihres Freiheits-Hits "The Wind of Change". Doch die russischen Interpeten hatten im Land eine wache, versöhnliche Stimmung erzeugt, die den Marschbefehl der Putschisten konterkarierte.

Tim Neshitov

Epochenwechsel verleiten zum Kitsch. Der deutschen Band Scorpions gelang mit "The Wind of Change" ein Hit, der zur internationalen Hymne der Wende wurde. Er fängt eine Stimmung ein, an die man sich gerne erinnert, die es aber nicht unbedingt wirklich gegeben hat. Der Song trifft den sogenannten Nerv der Zeit ungefähr so genau, wie eine Matrjoschka - das sind diese lackbunten ausgehöhlten Holzpuppen - die Wirklichkeit russischer Dörfer wiedergibt.

Klaus Meine; Scorpions; Rudolf Schenker

Die Scorpions besangen 1989 in Moskau den "Wind of Change". Viele russische Liedermacher aber fassten diesen Wind in sehr viel bessere Worte als die Hannoveraner: "Die Zeit eines anderen Breitenkreises dringt wie Zugluft durch die Spalten", heißt es bei Alexander Baschlatschow.

(Foto: ddp images/AP/Anonymous)

"The future's in the air, I can feel it everywhere" sangen die Scorpions, berauscht von einer lauen Augustnacht in Moskau, von Soldaten, die vorbeigehen, von dem Gefühl, dass wir uns alle so nah sein könnten, wie Brüder. In seinen letzten Amtstagen im Dezember 1991 lud ein altersmilder Michail Gorbatschow die Rocker in den Kreml ein und erkannte damit die Rolle der Musik beim Zerfall der Sowjetunion offiziell an.

Natürlich waren es andere Liedermacher, die in Russland die Wende herbeigesungen hatten. Mitte der achtziger Jahre war in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, eine lebendige Rockszene entstanden, die das geistige Klima des Aufbruchs prägte.

Als Gorbatschow am 19. August, heute vor zwanzig Jahren, einen Putsch der Nomenklatur gegen seine Reformen abwehrte, konnte er sich auf die wache, versöhnliche Stimmung verlassen, die diese Musik im Land erzeugt hatte. Soldaten, die den Marschbefehl der Putschisten verweigerten, die nachts über Kasernenmauern kletterten, um die Periskope ihrer rostigen Panzer zu verkaufen, hörten nicht Scorpions, sondern Alisa, Kino oder DDT. Diese Bands besangen eine Generation, die zwischen Rebellion und Selbstzweifeln zerrissen war. Aus dieser Mischung entstand, typisch für Dichtung in Zeiten der Diktatur, das Poetische jener Zeit.

DDTsang von Söhnen, die "laut und lange schreien wollen, während ihre Verwandtschaft sie anfleht, zu schweigen." Diese Söhne versaufen dann "die Orden ihrer beispielhaften Väter, weil sie nicht mehr an die gebrechlichen Götter glauben". Und bei Kino, der Band mit der traurigsten Musik, wartete die Jugend "auf den Sommer, aber es kam der Winter. Wir betraten Häuser und in den Häusern schneite es. Wir warteten auf den morgigen Tag, jeden Tag warteten wir auf den morgigen Tag. Nun verstecken wir unsere Blicke hinter den Vorhängen der Augenlider."

1987 kam in Russland ein Film mit dem schlichten Titel "Rock" heraus. Darin erzählte Boris Grebentschikow, der Frontmann der Band Aquarium, zu dem Zeitpunkt der meistgehörte Rocker der Sowjetunion, von seinen Begegnungen mit der Staatsmacht. Wie ein Volksfeind sei er behandelt worden, es gebe für das Regime die äußerlichen Feinde, etwa die USA, und die inneren Feinde, die subversiven Liedermacher, die im Zweifelsfall alle schwul seien und ihre perversen Leidenschaften auf der Bühne auslebten.

In der folgenden Szene ist eine Konzertaufnahme zu sehen, Grebentschikow singt "Das Silber meines Herren", eine Ballade über Liebe und Glauben mit einer Hommage an F. Scott Fitzgerald. "Ich bin von einem hellen Pfeil getroffen worden, man kann mich nicht mehr heilen. Ich wurde ins Herz getroffen - was kann ich mir noch wünschen? Als wäre die Nacht noch zärtlich, als gäbe es noch den alten, den geraden Weg unserer Liebe."

Abwartende Romantik russischer Rockbands

Der Song fasst jene schüchterne, abwartende Romantik zusammen, mit der die besten russischen Rockbands, unterschiedlich wie sie waren, damals auf die Bühne traten. "Wir schweigen noch, wir rechnen noch und warten. Und wenn wir singen, dann singen wir über uns selbst - worüber sollen wir denn sonst singen? Aber etwas stimmt nicht, die Farben sind irgendwie fahl, so als würdest Du uns fehlen." Mit Du ist Gott gemeint.

Die russische Musik jener Jahre ist weniger politisch und viel religiöser, als man mitten in der Perestroika-Euphorie hätte erwarten können. Es geht nicht darum, dem siechen System einen letzten Schlag zu versetzen, sondern darum, seinen eigenen Platz in einem unvermeidlichen Epochenwechsel zu begreifen. "In unseren Augen ist die Sternennacht, in unseren Augen ist das verlorene Paradies", sang der Gründer von Kino, Viktor Tsoi. "Was brauchst du? Triff deine Wahl!"

Von dieser Wahl hing ab, wie die Zukunft eines freien Russlands aussehen würde. Und mit dieser Wahl ließen die jungen Rocker (Tsoi starb 1990 bei einem Autounfall mit 28 Jahren) ihre Fans alleine. In dem Hit "Meine Generation", zu dem Millionen Russen Kerzen und Feuerzeuge schwenkten, bekannte sich der Alisa-Sänger Konstantin Kintschev zu den Grenzen seiner Kunst: "Leider bin ich zu schwach, wie auch der Zeuge der Ereignisse auf Golgotha schwach war. Ich kann vieles vorhersehen, aber ich kann nichts vorhersagen."

Die Frage nach der Freiheit

Ausgerechnet der Musiker, der vieles vorhergesagt hat, was in Russland seit Gorbatschow passiert ist - die brüderliche Zukunft, welche die Scorpions allseits zu spüren glaubten, ist ja leider ausgefallen - ausgerechnet Alexander Baschlatschow trat in dem Film "Rock" nicht auf. Baschlatschow, ein Jahrhundertdichter ohne eigene Band, hatte zugesagt, dann abgesagt, dann stürzte er im Februar 1988 aus dem Fenster seiner Leningrader Wohnung, Kutusow-Prospekt 23, achter Stock. Der Regisseur von "Rock" brachte danach eine aktualisierte Version des Films heraus. Darin sind stille Aufnahmen von Baschlatschows Beerdigung zu sehen.

PANZER VOR RUSSISCHEM REGIERUNGSGEBÄUDE

Am Morgen des 19. August 1991 rollten Panzer durch Moskau. Ein selbst ernanntes "Staatskomitee für den Ausnahmezustand" erklärte Präsident Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen für abgesetzt. Doch der Putsch scheiterte.

Seine schwangere Frau hält seine Gitarre, sie steht am Grab und blickt hinein. Ein Mann mit einer hochgeklappten Pelzmütze eilt heran, er nimmt der Witwe die Gitarre ab und zögert dann, wie er sie auf den Sarg legen soll. Er kann sie nicht hinunterwerfen und steigt, starr vor Ehrfurcht, in das Grab hinab. Man hört Baschlatschows brüchige Stimme, sie fragt: "Können wir ein bisschen mehr Licht im Saal haben?" Letztes Konzert, Baschlatschow, 27 Jahre alt, singt über die "Zeit eines anderen Breitenkreises", die "wie Zugluft durch die Spalten dringt".

Der Sohn eines Wasseringenieurs und einer Chemielehrerin aus der Provinz hat wohl am meisten dazu beigetragen, dass es heute so etwas wie eine Kontinuität in der russischen Kultur gibt. Mit seinen Liedern überbrückte er einen Systemwechsel, bei dem viel Euphorie und noch mehr Zynismus freigesetzt wurde. Seine Texte sind schwer zu übersetzen, auf der Oberfläche sind sie finster, beinahe makaber. Sie handeln von Kirchenglocken, von denen die Goldschicht abblättert, von gestohlenen Sätteln und ungeölten Rädern. Aber sie setzen unfehlbar dort an, wo Kultur anfängt: Bei der Frage nach der Freiheit. "Ein langer Marsch durch Frost und Schnee, alles haben wir ertragen, und sind frei geblieben."

Bei Baschlatschow ist es keine Frage des humanistischen Glaubens, dass die meisten Menschen, egal in welchem politischen System sie leben, frei und einzigartig bleiben. Für ihn ist es eine Tatsache: "Lange liefen wir dreckig herum und ähnelten uns alle. Unter dem Regen sehen wir plötzlich unterschiedlich aus, und siehe da, die meisten sind ehrliche, gute Menschen."

Allerdings ist diese Tatsache kein Grund zum Jubeln, sondern zum Nachdenken. Baschlatschow geht es nicht um die Freiheit selbst, sondern um den Umgang damit. Freiheit ist Verantwortung, Suche nach der eigenen Bestimmung: "Es ist nicht wichtig, woran du stirbst, sondern wofür du geboren wurdest." Er blickt in die russische Vergangenheit und sieht voraus, dass die Menschen im neuen Russland an ihrer Freiheit scheitern werden, so wie der grübelnde Mörder Raskolnikov einst an der seinen scheiterte.

Wilde Schlittenfahrt mit Glöckchen

Baschlatschow sagt Russland eine wilde Schlittenfahrt voraus, mit Glöckchen statt Glocken, mit heidnischen Tänzen im verschneiten Nichts. Damit schlägt er einen Bogen zu Nikolaj Gogol, und für diese schonungslose Konsequenz schätzen sie ihn heute in Russland.

Konsequent war auch, dass Baschlatschow seine eigene Freiheit nur 27 Jahre lang ertrug. "Streck nur die Hand aus und du wirst im Himmel deinen neugeborenen Stern streicheln", sang er. "Über den Fenstern, über den Dächern. Na, worauf wartest du? Lauf, habe keine Angst, greif nach dem Stern. Oder ist es zu hoch? Näher, näher. Nun ist es warm. Spürst du, wie heiß es ist?"

Steht man über seiner Zeit, blickt man in einen Abgrund. In diesen Abgrund musste der Mann mit der Pelzmütze für einige Augenblicke absteigen, als er dem Dichter seine Gitarre auf den Sarg legte.

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