"Lore" im Kino:Aus der Kindheit gerissen

Mit ihrer jüdischen Herkunft und durch den Genozid an den Aborigines ist die Australierin Cate Shortland doppelt sensibilisiert für die deutsche Geschichte. In ihrem neuen Film "Lore" blickt die Regisseurin auf die Nachkriegszeit aus der Teenagerperspektive. Die Entnazifizierung wird zum erschütternd-intimen Coming-of-Age.

Anke Sterneborg

Saskia Rosendahl im neuen Kinofilm "Lore" von Cate Shortland

Lore ist der Inbegriff eines arischen Mädchens. Saskia Rosendahl spielt sie auf einem schwindelerregenden Grat zwischen trotzigem Selbstbewusstsein und aufkeimenden Zweifeln.

(Foto: Music Box Films)

"Er kommt aber noch?", versucht Lore sich bei ihrer Mutter zu vergewissern, sie muss wohl den Vater meinen, einen SS-Offizier, der im Frühjahr 1945 überstürzt untertauchen muss, nicht ohne vorher noch einige Akten zu verbrennen. "Wer?", fragt die Mutter abwesend - "Der Endsieg", erwidert überzeugt das Mädchen.

Mit blauen Augen, blonden Zöpfen und einem Gesicht, in dem hinter drallen Kinderwangen langsam herbe Mädchenschönheit aufschimmert, ist Lore der Inbegriff eines arischen Mädchens, und Saskia Rosendahl spielt sie auf einem schwindelerregenden Grat zwischen trotzigem Selbstbewusstsein und aufkeimenden Zweifeln, ungebrochen kämpferisch und hilflos verloren.

Schon in ihrem ersten Spielfilm "Somersault" spürte die Australierin Cate Shortland vor acht Jahren dem Ausschlagen virulenter Teenagergefühle nach. Wenn sie nun fern der Heimat einen deutschen Stoff verfilmt, das Mittelstück von Rachel Seifferts dreiteiligem Roman "Die dunkle Kammer", ist sie mit ihrer jüdischen Herkunft und als Australierin doppelt sensibilisiert, durch die unrühmliche Kolonialgeschichte ihres Landes, den Genozid an den Aborigines.

Sie schaut aus der Teenagerperspektive auf die bekannte Historie, öffnet den Blick für eine frische, rohe Wahrnehmung. Die Entnazifizierung wird zum erschütternd-intimen Coming-of-Age, zur Reise durch ein düsteres Nachkriegsmärchenland, wo Chaos und Zerstörung, Armut und Hunger herrschen, Tote herumliegen und mit ersten Bildern aus den KZ eine Ahnung von immenser Schuld herandrängt.

Die Zugehörigkeit zu den Nazis, die gerade noch Schutz und Sicherheit versprach, ist plötzlich ein Stigma. Jäh wird Lore aus der Kindheit gerissen und in die Erwachsenenpflicht genommen, nach der Verhaftung ihrer Eltern muss sie sich mit ihren vier Geschwistern vom Schwarzwald nach Hamburg zur Großmutter durchschlagen.

Ein älterer Junge, der mit jüdischen Papieren weitgehend ungehindert durchs besetzte Deutschland reisen kann und die Kinderschar unter seine Fittiche nimmt, weckt in ihr ganz widersprüchliche Gefühle von Rassenhass, Dankbarkeit und erotischer Anziehung. Und mit den Schrecken der alten kann man die Wunder der neuen Welt entdecken.

Lore, D/Australien 2012 - Regie: Cate Shortland. Buch: Cate Shortland, Robin Mukherjee. Kamera: Adam Arkapaw. Mit Saskia Rosendahl, Kai Malina, Nele Trebs, Eva-Maria Hagen. Piffl Medien 109 Min.

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