Kanzlerkandidat übt sich in Filmkritik:Was Steinbrück am russischen Roulette fasziniert

Peer Steinbrück ist ein möglicher SPD-Kanzlerkandidat, "The Deer Hunter" ein radikaler Kriegsfilm aus den 1970er Jahren. An der Deutschen Filmakademie redet Steinbrück über Film, Kino und Krieg. Es wird eine sehr amüsante Offenbarung.

Tobias Kniebe

Manchmal muss man die Dinge einfach nebeneinander stehen lassen. Zumindest mal einen Moment lang. Doch wirklich.

Deer Hunter, The

Der Wahnsinn des Krieges sickert langsam in die Bilder ein, in die Performances von Robert De Niro und Christopher Walken. Und es ist ein Rausch, dem Tod beim russischen Roulette so ausdauernd ins Auge zu blicken wie in "The Deer Hunter".

(Foto: EMI / Columbia / Warner / The Kobal Collection)

Da steht nun also erstens: Peer Steinbrück, Berufspolitiker, SPD-Abgeordneter, möglicher Kanzlerkandidat, groß, irgendwie nordisch, äußerlich und innerlich sauber aufgeräumt. Und zweitens: "The Deer Hunter" von Michael Cimino, Kriegsfilm, Vietnamfilm, Amerikafilm, groß, unaufgeräumt, einer dieser bis heute nicht restlos verdaulichen Hollywood-Hämmer der siebziger Jahre.

Sie stehen da nebeneinander auf einer Abendeinladung der Deutschen Filmakademie in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Es geht um eine neue Veranstaltungsreihe, in der Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur ganz persönlich über das Kino reden dürfen. Die Reihe heißt "Mein Film", Peer Steinbrück macht den Anfang. Sein Film heißt: "The Deer Hunter".

Wenn man Peer Steinbrück sonst so sieht, neben Helmut Schmidt auf dem Spiegel-Titel, neben Helmut Schmidt bei Günther Jauch, neben Helmut Schmidt auf einem Buchcover beim Schachspielen, ja sogar ganz ohne Helmut Schmidt - dann weiß man ungefähr, was alle Beteiligten gleich so sagen werden.

Aber hier? Robert De Niro, der sich da auf dem Filmplakat den Russisch-Roulette-Revolver ans blutrote Stirnband presst, soll der jetzt vielleicht sagen: "Der kann es" - und sich dann die Birne wegpusten? Oder sagt er doch eher: "Ein Schuss!" Dann würde er die durchgeknallten verschwitzten Vietcong angrinsen, ein verschmiertes Bündel Dollarnoten auf den Tisch knallen - und auf Merkel setzen. Einen Schuss hat sie noch, brüllen all die durchgeknallten, verschwitzten Euro-Kommentatoren rund um den Roulettetisch.

Kurz gesagt, an diesem Abend kann alles passieren.

Es könnte aber auch ganz undramatisch so sein, dass sich der Berufspolitiker Steinbrück stärker als bisher bekannt für das Kino interessiert, und dass man ihn beim Reden über "The Deer Hunter" noch mal ganz anders kennenlernen kann als bisher. Warum nicht? So denken sich das wahrscheinlich Iris Berben, Volker Schlöndorff, Vadim Glowna und etliche andere Filmschaffende, die Peer Steinbrück freundlich begrüßen und sich dann in die tiefen Ledersessel der Astor Film Lounge einsinken lassen.

Steinbrück ist der Analytiker

Und dann steht der Mann also vorne und fängt an, den Film "The Deer Hunter", der gleich laufen wird, zu erklären. Ein großer Kommunikator vom Stile Gerhard Schröder hätte an dieser Stelle augenzwinkernd auf Kumpel gemacht, nach dem Motto: Sie sind die Filmakademie, Ihnen brauch' ich nichts zu erzählen. Sicherheitshalber hätte er sich dann noch die Vorbereitung gespart.

Steinbrück aber kann das nicht. Er hat das anders gelernt. Dieser Film ist ihm wichtig, und wie alle Dinge, die dem Berufspolitiker Steinbrück wichtig sind, will er vermittelt werden. Wie ja überhaupt alles der Vermittlung bedarf, was eines Tages irgendwo ankommen soll - beim Wähler zum Beispiel oder beim Publikum. Und indem Steinbrück etwas vermittelt, in präziser, möglichst nüchterner Faktizität und dieser klirrend kühlen Hamburger Diktion, wird ihm selbst auch noch einmal klarer, was hier nun der Fall ist und was nicht.

Der Fall ist zunächst - es wäre unsinnig, dem Wähler diese Härte zu verschweigen -, dass dies ein langer Film ist: fast drei Stunden. Er hat eine dreigeteilte Struktur: Abschied von Freunden und Familie - Kriegseinsatz in Vietnam - Heimkehr und Trauma. Die ersten sechzig Minuten werden also russischstämmige Stahlarbeiter in Pennsylvania zu sehen sein, bei einer "ziemlich langen Hochzeitsfeier" oder "wie sie ihrem Hobby frönen, der Rotwildjagd". Zu besichtigen ist da, mit anderen Worten, "ein relativ stabiles soziales Gemeinwesen".

"Was dann kommt, ist nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwunden"

Es ist schon faszinierend, wie viel sich allein hier schon über den Menschen und Politiker Steinbrück enthüllt. Gleich wird die Faust des betrunkenen Vaters krachend in Meryl Streeps Gesicht einschlagen, bevor noch irgendwer in Vietnam ist - aber ein Verwaltungsbeamter, ein Staatssekretär, ein Politiker, ein Mann mit dem Lebensweg Steinbrücks muss das eher mit dem Blick des Sozialingenieurs sehen, da kann es nicht um Einzelfälle gehen. Diese russischen Zuwanderer in "The Deer Hunter" sind eigen, sie feiern orthodox und haben ihre Marotten, aber sie arbeiten hart an den Hochöfen, der Familienzusammenhalt funktioniert (meistens), sie ziehen für ihre neue Heimat in den Krieg und in sentimentalen Momenten singen sie "God Bless America". Na bitte: Ein bisschen Religionsfreiheit - und Integration kann gelingen.

Start der Veranstaltungsreihe 'Mein Film'

Peer Steinbrück mit Iris Berben im Berliner Kino.

(Foto: dapd)

"Was dann kommt, ist nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwunden", sagt Steinbrück nun, und auch das klingt nüchtern und faktisch - aber nicht so nüchtern, dass man keine Erschütterung dahinter mehr spüren könnte. Er erklärt nun seine generelle Abneigung gegen den Kriegsfilm, der ja doch zum "technischen Schlachtengemälde" tendiere und damit zur Verharmlosung - und als Regisseure, die dieser Falle entkommen seien, werden Lewis Milestone, Jean Renoir, Jean-Pierre Melville und Francis Ford Coppola ausdrücklich genannt.

Solcherlei Fachwissen wirkt echt und nicht wie vom Referenten aufgeschrieben. Auf dieser Ebene ist dem Mann nichts nachzuweisen, nicht einmal allzu geschickte Selbstdarstellung - auch in seinem Interview-Buch mit Schmidt hat er den "Deer Hunter" schon lobend erwähnt. Hin und wieder lässt er dort weitere, thematisch passende Filmtipps einfließen, Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern" etwa, als es um die "vaterlose Generation nach dem Krieg geht", oder Costa-Gavras' Verfilmung von Hochhuths "Stellvertreter", wo er Schmidt den "glänzenden Schauspieler Ulrich Tukur" ans Herz legt. Man sieht das richtig vor sich, wie Schmidt angesichts dieses eifrigen Filmfans kurz die Eulenaugenlider herabfährt, um dann kommentarlos zum nächsten Thema voranzuschreiten.

Steinbrück respektiert nun "The Deer Hunter" explizit dafür, dass er das technische Schlachtengemälde ganz bewusst minimal hält und stattdessen die "gesellschaftlichen Folgen des Krieges" in den Blick nimmt. Traumatisierung, Zerfall der Familienstrukturen, alles geht zu Bruch. Peer Steinbrück glaubt, dass das die Wahrheit ist. Sollten eines Tages - wer weiß, was alles passiert - irgendwelche Amerikaner bei ihm anrufen und deutsche Truppen verlangen, um wieder irgendwo einzumarschieren - die können sich schon mal sehr warm anziehen. So sagt er das dann zwar nicht mehr, aber die Botschaft ist angekommen.

Ein Spiel um höchste Einsätze

Das ist der sozialdemokratische, hochvernünftige, irgendwie doch noch sehr naheliegende Teil der Sache. Aber ist da nicht auch noch mehr? "The Deer Hunter" ist ja auch deshalb schon immer ein kontroverser Film, weil der Wahnsinn des Krieges langsam in seine Bilder einsickert, in die Performances von Robert De Niro und Christopher Walken, und weil es auch ein Rausch ist, dem Tod beim russischen Roulette so ausdauernd ins Auge zu blicken. Dem kann sich eigentlich keiner entziehen: Gibt es da noch eine andere Seite in diesem Filmfan - Peer Steinbrück, den Spieler um höchste Einsätze?

Falls es den gibt, dann bleibt er auch an diesem Abend sehr gut unter Kontrolle - aber bezeichnend ist doch, wie Steinbrück das Publikum auf die Szene des Ausbruchs vorbereitet. Achten Sie darauf, wie De Niro sich von den Vietcong drei Kugeln für den Revolver geben lässt, sagt er - "against all odds". Zweimal richteten er und Christopher Walken die Waffe gegen sich selbst - und überlebten. "Erst dann ist die Wahrscheinlichkeit ausreichend hoch, dass die nächsten Kugeln auch in der Kammer sind." Also werden jetzt die Wachen erschossen, der Plan gelingt. Steinbrück nickt, als er sich diese Szene vor dem inneren Auge vorstellt. Klarer Plan, präzise kalkulierte Wahrscheinlichkeiten, dann den Einsatz krass erhöhen, und schließlich etwas Glück. So könnte es klappen.

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