Jonathan Littells "Notizen aus Homs":Zu nah an den offenen Leibern

Der preisgekrönte Schriftsteller Jonathan Littell beschäftigt sich oft mit dem Töten und Sterben, nun erlebte er auf einer Syrienreise ein beeindruckendes Beispiel von Regime-Gewalt. Sein Bericht "Notizen aus Homs" leidet allerdings unter einem faszinierten Fotorealismus, der die nötige Distanz zur Situation vermissen lässt.

Sonja Zekri

Jonathan Littells "Notizen aus Homs": Fernsehbild des syrischen Senders "Shaam News Network" zeigt einen Mann der von Bombenangriffen verletzt wurde und Anfang November in einem Krankenhaus in Houla behandelt wird.

Fernsehbild des syrischen Senders "Shaam News Network" zeigt einen Mann der von Bombenangriffen verletzt wurde und Anfang November in einem Krankenhaus in Houla behandelt wird.

(Foto: AP)

Darf man dieses Buch schlecht finden? Bei diesen Risiken? Der Autor war zwei Wochen in Homs, ja sogar: Baba Amr - an Orten also, die einen Klang haben wie einst Beirut und Grosny. Dann die Relevanz: Bürgerkrieg, Freiheitskampf hier, ein verbrecherisches Regime dort. Dazu diese Ehrlichkeit: "Dies ist ein Dokument, kein literarisches Werk", lautet der erste Satz von Jonathan Littell, der dem Leser damit die "treuestmögliche Transkription" zweier Notizhefte vorlegt, einen Bericht über "einen kurzen und bereits verschwundenen Moment, der quasi ohne Zeugen von außen stattgefunden hat". Nun, könnte man sagen, das gilt ja für die meisten Momente.

Aber davon mal abgesehen: Kann man ein solches Werk ablehnen?

Jonathan Littell hat Syrien vom 16. Januar bis zum 2. Februar 2012 bereist, im Schlepptau des arabischsprachigen französischen Fotografen Mani, und im Auftrag der französischen Zeitung Le Monde, die seine Reportagen in fünf Teilen veröffentlichte.

Prix Goncourt für Jonathan Littell

Der französisch-amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell hat sich mit dem NS-Roman "Die Wohlgesinnten" einen Namen gemacht. Nun hat er mit "Notizen aus Homs" einen Augenzeugenbericht über den Bürgerkrieg in Syrien vorgelegt.

(Foto: dpa)

Kurz nach seiner Abreise bombte Präsident Assad Baba Amr in Grund und Boden. Journalisten starben, andere wurden verwundet. Da wirkte Littels Reise noch etwas sensationeller.

Jonathan Littell beschäftigt sich oft mit dem Töten und Sterben, er war in Georgien und Tschetschenien, sein NS-Roman "Die Wohlgesinnten" war ein umstrittener, stark beachteter Ausflug ins Fiktionale.

Aber nun hat ihn die Wirklichkeit wieder. Ihn interessiere nicht der pathologische Killer, hat er gesagt, sondern die organisierte, sozusagen staatliche Mordmaschine.

Auf seiner Syrienreise, "embedded bei den Aufständischen der Freien Syrischen Armee", erlebte er ein beeindruckendes Beispiel von Regime-Gewalt: "Er zeigt mir einen Film, mit Musik hinterlegt, offenbar von YouTube heruntergeladen, auf dem man zwei junge Männer sieht, die in Zahra von den 'Schabiha', den Regierungsmilizen, gefangenen genommen wurden und bei lebendigem Leib mit einem Messer enthauptet werden.

Ein ultradrastischer Film, ein Riesen-Blutgespritze. Die Killer legen die beiden Köpfe auf den Boden und pflanzen das Messer daneben. Der zweite Kopf auf dem Boden zuckt noch, sicher wegen des Blutes."

So ist der Krieg, so ist Syrien

Mit so fasziniertem Fotorealismus beschreibt Jonathan Littell nicht nur die Verbrechen der "Schabiha", er beschreibt Folter in Krankenhäusern, Kinder mit durchschnittener Kehle, offene Leiber. So ist der Krieg, so ist Syrien, das ist Splatter, aber das kann man ihm nicht vorwerfen.

Und ja, manchmal gelingen ihm kluge Beschreibungen über die Parallelgesellschaften, in der der zerfallende Assad-Staat und eine neue Infrastruktur der Aufständischen mit eigenen Kontrollposten, Kommunikationsnetzen, Anhängern in Militär und Religion einen ähnlichen Ausschließlichkeitsanspruch erheben. Die Ankunft der radikalen Islamisten, auch Al-Qaida-Mitglieder - heute eines der Hauptthemen - scheint auf.

Affirmatives Verhältnis zum Krieg

Littell verschweigt nicht die Brutalität der Aufständischen, die sich von der des Regimes inzwischen kaum noch unterscheidet, er beschreibt den Lynchmord an einem Schabiha-Milizionär, dessen Leichnam die Rebellen auf einem Pick-up durch die Straßen fahren, "triumphale Prozession blutiger Rache". Bevor die Aufständischen den echten Baschar töten, schreibt er, müssen sie erst "den Baschar in ihren Köpfen" töten. Das trifft das Dilemma ziemlich gut.

Aber das sind kurze Momente, das ist nicht das ganze Buch. Denn Littell, der Literat, der auf das Feld des Reporters wechselt, veröffentlicht, was Journalisten mit gutem Grund für sich behalten: die krausen, ungeordneten, oft redundanten Skizzen einer eindrücklichen Reise.

Gewiss, in einer Zeit, in der jeder Blogger das tolle Leben im Bombenhagel an die Lieben daheim twittert, ist die Halbwertzeit von Kriegsgeschichten geringer als zu Zeiten Hemingways und des spanischen Bürgerkriegs, ist der Druck, einen solchen Text herauszubringen, noch etwas größer.

Aber während Littell Authentizität behauptet, klingt manches viel zu elaboriert für eine Notiz im Bombenhagel. Und umgekehrt verwechselt er seinen holpernden Stil mit Dramatik, bis der Leser durch ein Gewitter von Orten und Personennamen irrt, die sich irgendwann in einem spannungslosen Grundrauschen verlieren. "Er war raqib in Deraa, an der Spitze einer kleinen Einheit der Armee. Er hat an einem Massaker an elf Zivilisten bei Laraa, in der Nähe von Deraa, teilgenommen. Der naqib Manhall Sliman hat das Massaker befohlen, zusammen mit dem naqib Randi." Was bleibt von solchem Gestolper hängen?

Littell findet keinen Abstand zu sich selbst, zu seiner Rolle als kampferprobter Chronist in einsamer Mission, als wäre die türkische Grenze nicht seit Monaten ein Wanderweg für Journalisten auf dem Weg nach Syrien. Fast so viel wie über den Krieg erfährt der Leser denn auch über den Autor - seine Träume, seinen fiebrigen Husten, seine tröstenden Gespräche mit den Rebellen (über die Untätigkeit des Westens), seine eindrucksvolle Lektüre (Plutarch).

Persönliche Betroffenheit kommt derzeit gut an, auch bei Journalistentexten. Zufrieden hält Littell fest: "Es ist seltsam, nach so vielen Jahren mal wieder in einer Bude voller junger Kämpfer und Kalaschnikows zu schlafen." Man tut ihm kein Unrecht, wenn man konstatiert: Jonathan Littell hat ein affirmatives Verhältnis zum Krieg.

Eine Parabel über Gewalt und Pornografie

Aber für den interessierten Zeitungsleser bietet sein Buch kaum Neues. Und für alle anderen dürfte so viel ausgestellte Insiderkenntnis eher anstrengend sein. Dass Littell zudem nicht nur französische und russische, sondern auch englische Zitate im Original wiedergibt, dass er großspurig mit arabischen Begriffen hantiert und am Ende eine Liste syrischer Offiziersränge anfügt, aber manches falsch dekliniert oder falsch übersetzt, wirkt albern.

Gelegentlich, nicht oft, findet er die Distanz zu einer Situation, die eigentlich Empathie erzwingt. Wenn die Kämpfer ihm die Filme ihrer Märtyrer zeigen, "nackt, nur das Geschlecht bedeckt. Großaufnahmen von den Wunden. Zurschaustellung des Märtyrerkörpers", dann klingt an, was dieses Buch mit etwas weniger Hast hätte werde können: eine Parabel über Gewalt und Pornografie, das Diagramm einer kollektiven Verrohung, es hätte größer, tiefer, überzeitlich werden können.

Der Vietnam-Reporter Michael Herr brauchte Jahre, um seine Aufzeichnungen in Buchform zu bringen, aber sein "Dispatches" (deutsch unter dem verbrecherisch schlechten Titel "An die Hölle verraten") wurde aus dem Stand ein Klassiker, denn es traf den Nerv einer Generation von Vietnam- und Rock'n'Roll-Veteranen. Herr gab sich nicht eine Sekunde lang Illusionen über die heroischen Motive von Kriegsreportern hin: "Vietnam", schrieb er lakonisch, "ist ihr Ersatz für eine glückliche Kindheit." Manche der unglücklichen Kinder von heute treffen sich in Syrien.

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