Joachim Kaiser über Karajan:Schönheit und Ekstase

Joachim Kaiser erinnert sich - an Karajans Konzerte, die Gespräche mit dem berühmtesten Maestro der Welt und daran, dass man in Karajans Nähe nicht stillsitzen konnte.

Reinhard Brembeck

Herbert von Karajan, der am kommenden Samstag seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, war schon zu Lebzeiten der berühmteste Dirigent der Welt und ist es auch heute noch, 19 Jahre nach seinem Tod. Gerade aber weil er weit über die Grenzen des Klassikbetriebs hinaus die Massen hysterisierte, weil er, der Liebhaber von Jachten, schnellen Autos und noch schnelleren Privatjets, oft als Teil des internationalen Jetsets wahrgenommen wurde, war Karajan auch immer umstritten. Und zwar nicht nur als Persönlichkeit, dessen Rolle während der Nazityrannei erst mühsam aufgeklärt und dokumentiert werden musste. Sondern auch als ein Künstler, dem immer wieder musikalische Glätte und Kulinarik attestiert wurden, der in seiner Technikverliebtheit seine immens vielen Platten- und Videofilmaufnahmen bis zum letzten Ton durchstylte und die absolute Kontrolle über seine Produktionsmittel anstrebte.

In Salzburg geboren, gab Karajan dort 1929 sein erstes Konzert und wurde vom Fleck weg ans Stadttheater Ulm engagiert. Es folgten Aachen und ein erstes Karrierehoch in Berlin. Nach Kriegsende und kurzfristigem Berufsverbot begann eine beispiellose Karriere. Alle wollten Karajan in Zentraleuropa haben, überall wollte er dirigieren: Mailänder Scala, Bayreuther Festspiele, Wiener Staatsoper, Salzburger und Luzerner Festspiele. Entscheidend aber war, dass Karajan 1955 als Nachfolger von Wilhelm Furtwängler an die Spitze der Berliner Philharmoniker gelangte.

SZ: Können Sie sich daran erinnern, wann und wo Sie Karajan erstmals live gehört haben?

Joachim Kaiser: Oh ja, so etwas vergisst man nicht. Ich hatte ihn in Bayreuth 1951 mit den "Meistersingern" gehört - nur da begegnet man dem Dirigenten nicht, man sieht ihn gar nicht. Ich habe ihn - bewusst - dann das erste Mal 1957 oder 1958 in Wien gehört, "Die Walküre" dirigierend, und das hat mich umgeworfen, weil es phänomenal gut war, eine ungeheuerliche Mixtur aus Vehemenz und Subtilität. Das war die Zeit, in der Karajans Toscanini-Bewunderung und Ähnlichkeit noch sehr viel hörbarer wurde als später. Da war er noch ein relativ junger Mann, dirigierte mit ekstatischem rhythmischem Furor. Später wurde er lyrischer, suchte den Schönklang. Doch hinter seinem Schönheits-Ideal steckte nicht nur Kulinarisches.

SZ: Sie sind von Furtwängler geprägt, aber es sind kaum größere Gegensätze denkbar als Karajan und Furtwängler.

Kaiser: Mich hat dieses unmittelbare Feuer, das er verströmte, beeindruckt. Man kann ja einen Dirigenten als jemanden definieren, der Energie zu übertragen fähig ist. Als ich einmal unmittelbar in der ersten Reihe hinter Karajan sitzen musste und er Verdis "Otello" dirigierte, war es mir unmöglich, still zu sitzen und mich auf die Töne zu konzentrieren. Es ging nämlich von Karajan ein solches rhythmisches Feuer, eine solche motorische Beweglichkeit aus, dass der ruhig konzentrierte ästhetische Genuss gleichsam unmöglich wurde, wenn man ihm beim Dirigieren ganz nah war.

SZ: Sie sagten von den frühen Dirigaten: sehr rhythmisch ausgerichtet - später dann lyrischer geworden - Kulinarik: Was war da noch, jenseits der Kulinarik? Worauf zielte diese Schönheit?

Kaiser: Das Kulinarische und das Schöne sind nicht dasselbe. Wenn man aus bestimmten Konflikten, aus bestimmten Seelenlagen etwas absolut Schönes herausholt: Das ist eine große Leistung. Gegen Schönes, falls es Konflikte und Spannungen überwindet, kann niemand etwas sagen. Ich habe Anne-Sophie Mutter einmal darauf angesprochen, ob Karajan sie nicht doch zu einem übertriebenen Schönheits- und Langsamkeitskult verführt hätte. Darauf antwortete sie: Schönes ist doch nichts Verwerfliches. Wenn man das aus einem Mozartkonzert herauszuholen vermag, soll man es tun.

Karajan hat seinen Schönheitsbegriff später verfeinert. Sein letztes Verdi-Requiem war in ergreifender Weise wirklich "kulinarisch". Alles so langsam und leise, dass man zu spüren glaubte, die Musik kommt fast schon aus dem Paradies.

Karajan hat die Beethoven-Sinfonien mehrfach aufgenommen. Ich habe ihn einmal darauf angesprochen, dass er beim berühmten Allegretto aus der Siebten sein Tempo einmal beträchtlich verändert habe. Darauf antwortete er, er habe die Gesamtheit dieses Satzes in einem Moment, in einer virtuellen Sekunde, ganz vor seiner Seele - und könne das Stück dann organisch zusammenfassen.

SZ: Karajan kommt von der Oper her. Wie fügt sich die Symphonik da ein? Wie verträgt sich das? Eine Karriere, die im Symphonischen gleich stark verläuft wie im Opernbereich, ist fast eine Seltenheit.

Kaiser: Karajan hat die Berliner Philharmoniker als Nachfolger Furtwänglers "mit tausend Freuden" übernommen, und als er das tat, wusste er, dass sie ein rein symphonisches Orchester sind. Sie machen überhaupt keinen Operndienst. Dann aber hat er die Berliner dazu gebracht, bei seinem Anti-Bayreuth-Wagner-Festival in Salzburg 1967 ein unvergleichlich subtiles Opernorchester zu werden. Weil sie eben nicht die von Gustav Mahler als Schlamperei definierte Opernroutine hatten, sondern ein Weltklasse-Orchester waren, das sich zum ersten Mal überhaupt an die "Ring"-Partitur wagte. Nun beobachte ich allgemein bei Dirigenten folgendes: Falls sie sowohl im Opernbereich wie im Symphonischen Erfolg haben, dann ist für sie die Verlockung des Opernhaften meist größer. Da haben sie es mit Sängerinnen und Sängern zu tun, es gibt öffentlichen Enthusiasmus - und das mag reizvoller sein, als sich dem Tiefsinn einer Brahms-Sinfonie zu widmen.

Zudem ist Karajan ein genialer Begleiter gewesen. Seine vielbelächelte Eitelkeit wegen der Vorliebe für schnelle Autos, schmucke Segel-Jachten, halsbrecherische Sportfliegerei - sie kann ihn doch nicht so beherrschend geprägt haben, ihm nicht so wichtig gewesen sein! Hätte er tatsächlich nur die eigene Wirkung im Auge gehabt, wie ließe sich dann erklären, dass er so ungemein sensibel auf seine Solisten einzugehen vermochte?

Er ist der beste Verdi-Dirigent gewesen, den ich je live gehört habe! Manche seelenvollen Verdi-Kantilenen schienen unter seinen Händen am Ende eine ganz zarte, unmerklich langsamere, geheimnisvolle Bestätigung zu erfahren. Vom Schluss fiel dann rückwirkend verklärendes Licht auf die ganze Gestalt. Andererseits vermochte er Verdis Stretta-Entwicklungen furios zu steigern.

Natürlich gab es unter den zur Bosheit neigenden Musikern auch gehässige Urteile über Karajan. So wollte man ihm die großen, tragischen Sinfonien Beethovens nicht zutrauen: Also die Dritte, Fünfte, und Neunte. Nur bei den geraden Zahlen sei er unübertrefflich.

Den gewaltigen, tragischen und archaischen Ton, wie er Furtwängler etwa in der IV. Symphonie von Brahms oder im "Eroica"-Trauermarsch gelang, wollte und schaffte Karajan wohl nicht. Obwohl er 1978 in New York, als es für ihn wirklich darauf ankam, Brahms' Erste so grandios dirigierte, dass er dort (immerhin in der Stadt Bernsteins!) von der Presse als erster Dirigent der Welt gefeiert wurde. Und auch Barenboim fand, diese Brahms-Sinfonie soll ihm erst mal jemand nachdirigieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was uns heute von Karajan geblieben ist.

Schönheit und Ekstase

SZ: Was hat sich am Klang der Berliner Philharmoniker durch Karajan verändert?

Kaiser: Die Philharmoniker haben durch Hans von Bülow eine enorme Präzision gelernt. Dann folgte Arthur Nikisch und brachte dem Orchester seine improvisatorische Freiheit. Nach Nikisch kam Furtwängler und vereinigte von Bülows Präzision mit Nikischs Improvisations-Talent. Nun erst erschien Karajan und brachte dem Orchester ein Moment des Koloristischen zu. Auch sein Wiener Espressivo. Er hat enorm fein gehört, und den Orchester-Klang unermüdlich perfektionieren wollen. Wenn Beethoven ein Crescendo der Violinen vorschreibt, könne man es nicht normal anwachsen lassen. Denn später bringe Beethoven die majestätische Batterie der Bläser hinzu, die aber sei so viel stärker, dass bei einem normalen Violincrescendo ein störendes Ungleichgewicht entsteht. Um so etwas aufzufangen, ließ Karajan seine Streicher das Crescendo bewusst forcieren. Dann wirkte das Hinzutreten des Bläserapparates nicht unorganisch.

SZ: Karajan aber hat nicht nur dirigiert, er hat auch inszeniert.

Kaiser: Er schwor in aberwitzigem Maße auf Werktreue. Als Musiker war er altmodisch, konservativ, ein traditionalistischer Kapellmeister. Zugleich besaß er ein untrügliches, fast überscharfes Gefühl für die Bedeutung der Medien. Im Hinblick auf Aufnahme-Techniken, empfand er höchst modern, manchmal durchaus modisch. Eben das machte die Spannung seines Wesens aus. Weil er, abgesehen von Ponnelle, mit den Inszenierungen der meisten Regisseure unzufrieden war, machte er lieber alles selbst. Und war auch ein bisschen stolz darauf. Dass er rein technisch weit weniger gut inszenieren konnte als dirigieren, ist gar keine Frage. Aber so schlecht, wie man ihn damals machte, war er wohl auch nicht. Ich erinnere mich an einige recht ordentliche Inszenierungen. Er hat einen akzeptablen "Fliegenden Holländer" auf die Bühne gebracht und im "Ring" war auch nicht alles verwerflich. Aber es stand ihm wohl nicht zu Gebote, Sänger inszenatorisch zu führen. Das kann man nicht so nebenher machen, das muss man lernen. Seine Absicht war wohl, die Fehler anderer Regisseure zu vermeiden und lieber mittelmäßig zu inszenieren als falsch.

SZ: Wenn Sie sich an die Konzerte unter Karajan erinnern und diese dann mit seinen Aufnahmen vergleichen: Was fehlt den Platten?

Kaiser: Was ich jetzt sage, muss jeden jungen Leser, der Karajan nicht selbst erleben konnte, irritieren. Für mich sind die Platten und TV-Aufnahmen wunderschöne Erinnerungsstützen. Karajan war seinerzeit abenteuerlich berühmt, sicherlich der erfolgreichste und folgenreichste Dirigent des ganzen Jahrhunderts. Was ja nicht heißen muss, er sei auch der beste. Immerhin schuf das alles auch einen eminenten Erwartungsdruck. Wenn Karajan dirigierte, dann geschah etwas ganz Besonderes, und die Berliner Philharmoniker galten ohnehin als das erste Orchester der Welt. Man ging also hoch gestimmt in seine Konzerte (und war, falls es einem einmal nicht so gefiel, entsprechend enttäuscht).

Immerhin begegnete man im Karajan'schen Live-Konzert der faszinierenden obertonreichen und koloristischen Fülle seines Musizierens. Die wird von digitalen CDs nicht authentisch reproduziert. Und noch etwas anderes mag erwähnenswert sein. Die Philharmoniker sagten mir damals, Plattenaufnehmen beim Karajan ist, wie wenn du eine Zeitung liest. Das machen wir manchmal so nebenher ... Ein Orchesterkonzert war für ihn eine ganz andere Anspannung und Anstrengung. Deshalb haben die Konzerte für mich eine weit größere Dringlichkeit und emotionale Fülle gehabt als die zum Teil sehr schönen Platten. Wer die Chance hatte, Karajan jahrzehntelang zu begleiten, weiß wohl, dass seine physische Präsenz durch nichts zu ersetzen und mit nichts zu vergleichen ist.

SZ: Welche der Aufnahmen kommen diesem Ideal noch am nächsten?

Kaiser: Es gibt von ihm eine sehr schlanke und schöne "Eroica" aus den sechziger Jahren, wo man hört, dass er sich nicht mit Furtwängler messen will, also mit dessen großem, keuchendem Atem, und der archaischen Gewalt des Trauermarsches. Karajan empfand: Der Held der "Eroica" ist ein moderner Typ. Für den geht es auch ums Leben - aber er ist nicht so pathetisch. Ich finde auch Karajans "Pastorale" immer wieder sehr schön. Im Kopfsatz kommt es ihm gar nicht so sehr auf die relativ harmlosen Themen an. Entscheidend ist das Pulsieren des Natürlichen. Also die Fülle des Blühens, die Aura des Landlebens.

Karajan hatte eine Schwäche, die bei einem Salzburger kaum zu begreifen ist: Er hatte für die Mozart'sche Melancholie relativ wenig Sinn. Einmal machte er mit dem beklemmend entfesselten Regisseur Giorgio Strehler in Salzburg eine schreckliche "Zauberflöte". Um so schöner und bedeutsamer gelang, das ist eine meiner Lieblingsplatten, die frühe Aufnahme von Mozarts "Così" mit Elisabeth Schwarzkopf. Das Geniale und Artifizielle dieses späten Meisterwerkes brachte Karajan in ewige Sicherheit.

SZ: Wie hat sich Karajans Dirigierstil verändert?

Kaiser: Er fing ekstatisch an, als deutscher Toscanini, schwungvoll und vehement. Ende der Fünfziger Jahre kam ein Moment des Lyrischen und Koloristischen hinzu. Was gewiss nicht bedeutet, er hätte plötzlich alles leiser dirigiert, wohl aber klang es reicher, empfindsamer. Das war auch die Phase, in der Karajan, wenn er sich gar zu sicher fühlte, vielleicht nicht die ganze Spannung, die zu seinem Bild des Schönen gehörte, mitdirigierte. Da nannte ihn Adorno den Dirigenten des deutschen Wirtschaftswunders, da schrieb ich eine bittere Kritik über seine h-Moll-Messe: Karajan verfehlt Bachs Größe. Aber die Faszinationskraft büßte dieser, ein riesiges Musik-Imperium beherrschende Künstler nie ein.

So gewann er eine dramatische Klassizität, einen erfüllten Altersstil. Doch man darf sich das nicht zu schematisch vorstellen. Manchmal dirigierte er auch in späteren Jahren sehr leidenschaftlich und in seinen frühen verhalten. Kein Wunder, dass er gegenwärtig - weil er zu Lebzeiten so ungeheuer dominant war und darum nach seinem Tode kaum mehr im Zentrum ästhetischer Auseinandersetzungen stand - doch eine neue, gerechtere und bewundernde Bewertung erfährt. Ein Mensch besteht nicht aus Phasen, alles ist eigentlich immer zugleich da.

SZ: Zu Gustav Mahler hat er erst relativ spät gefunden.

Kaiser: Das ist eine Eigentümlichkeit bestimmter deutscher Dirigenten gewesen, die, wie ich glaube, mit Antisemitismus nichts zu tun hat. Auch Karl Böhm, Wilhelm Furtwängler und Sergiu Celibidache haben zu Mahler kein oder nur ein gebrochenes Verhältnis gehabt.

SZ: Worin besteht sein Einfluss heute? Was ist von Karajan geblieben?

Kaiser: Er hat uns alle ein bestimmtes Orchesterniveau gelehrt. Für ein normales Publikum ist das Wort Karajan fast gleichbedeutend mit dem Wort Dirigent. Er hat eine Reihe wichtiger Schüler gehabt, viele Musiker entdeckt: Abbado, Lipatti, Hildegard Behrens, Elisabeth Grümmer, Anne-Sophie Mutter . . . Auch da war er schöpferisch, und das wirkt nach.

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