Herbert von Karajan:Handwerker und Mediengenie

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Der junge Karajan war ein Ekstatiker, ein fanatisch Besessener, der Werke dirigentisch durchglühte. Ein Jahr vor seinem 100. Geburtstag zeichnet sich ein spätes Comeback des Dirigenten ab.

Joachim Kaiser

Weil Herbert von Karajan - 1908 bis 1989 - seinerzeit als erfolgreichster und in vielem Sinne auch folgenreichster Dirigent der Musikgeschichte galt, hörte auch nach seinem Tode die Beschäftigung mit ihm natürlich nie ganz auf. Biographien erschienen, zahlreiche CDs. Karajan-DVDs, wie sie mittlerweile von Sony Music vorgelegt werden, verkaufen sich ordentlich. Trotzdem ließ sich schwerlich übersehen, dass Karajan nach seinem Tode zu verschwinden schien aus dem musikkritischen Diskurs, während Furtwänglers Ruhm wuchs und der Bernsteins auch.

Herbert von Karajan, 1986. (Foto: Foto: dpa)

I.

Nun bahnt sich aber eine seriöse Neubewertung Karajans an. Im Rowohlt-Verlag veröffentlichte Peter Uehling vor einigen Monaten eine Karajan-Würdigung, die klug Karajans interpretatorische Modernität hervorhebt. Sorgfältig und schön formulierend, auf beträchtlichem Spekulations-Niveau, führt Uehling werknah interpretationskritisch aus, wodurch Karajan vor allem als Beethoven-, Wagner- und Strauss-Dirigent überzeitlichen Rang besaß.

In der März-Nummer der Zeitschrift Merkur unterstrich der Publizist Richard Klein jüngst emphatisch Peter Uehlings positive Karajan-Deutung. Und in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" beeilte sich Eleonore Büning, Karajan eine Woche vor seinem 99. bereits zum 100. Geburtstag "am 5.April nächsten Jahres" ausführlich zu feiern und interessante Antworten auf ihre Titelfrage zu geben: "Was bleibt von Karajan?"

II.

Wer die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Herbert von Karajan allgegenwärtig, allmächtig und auch physisch noch auf der Höhe war, infolge der Ungnade später Geburt nicht als Zeitzeuge miterlebte, vermag sich die aberwitzige, in allen Medien widerhallende Berühmtheit Karajans, den Wahnsinnsrummel um seine Person, die hysterische Begeisterung der Karajaniden wie auch den gehässigen Spott seiner Verächter ("Dirigent des Wirtschaftswunders") kaum hinreichend vorzustellen.

Für eine Karte zu seiner Salzburger "Boris Godunow"-Aufführung boten enthemmte Amerikaner allen Ernstes den Ticket-Preis statt in österreichischen Schillingen in Dollars - und dazu zwei Nordlandreisen! Die Premiere auf grotesk naturalistisch vollgestellter Salzburger Breitwandbühne mit dem steifen Ghiaurov in der Titelrolle geriet stinklangweilig. Am nächsten Abend, vor einer Strauss-Oper, flüsterte Karajan einigen Freunden zu, er sei sehr froh, nun endlich wieder professionell komponierte Musik machen zu können...

Dieser Künstler lebte gut fünf Jahrzehnte nahezu ununterbrochen in der Öffentlichkeit. Völlig unübersehbar wucherten die Massen der ihn betreffenden Kritiken, Interviews, Broschüren, Bücher. Und wer schließlich ein Umfrageergebnis las, demzufolge Karajan in seiner Heimat Österreich prominenter sei als alle anderen, prominenter als der Erzbischof von Wien, als Bundeskanzler und Olympiasieger, ja sogar als der letzte Sohn des österreichischen Kaisers, Otto von Habsburg - gab beklommen alle Informationsmühen auf.

III.

Der junge Karajan muss ein Ekstatiker gewesen sein. Ein fanatisch Besessener. Den keineswegs "wurschtigen", vielmehr tief beeindruckt reagierenden Richard Strauss hat er förmlich verstört, als er, damals in den dreißiger Jahren, die "Elektra" dirigentisch durchglühte. Im frühen Mannesalter war Karajan sodann ein vehementer, schlanker, das schneidende Brio beherrschender Künstler. Niemals später machte er Wagners "Walküre" so wild-passioniert, wie Ende der fünfziger Jahre in Wien. Ich war damals elektrisiert von Karajans rhythmischem Genie...

Als er die Berliner Philharmoniker zu seinem Instrument geformt hatte und in Salzburg ein eigenes Festspiel, ein "Gegen-Bayreuth" installierte, weil ihm das Neu-Bayreuth der Enkel längst nicht werktreu genug war, als er sich darüber ärgerte, dass man eine Künstlerin wie die Nilsson auf dem Grünen Hügel als "Automat für Spitzentöne" missbrauchte, begann in den sechziger Jahren neben aller Ekstatik, sein feiner, seidiger, gewiss auch anfechtbar schönheitsseliger Stil.

Karajan, als Interpret werktreuer Traditionalist, der von der Pike auf den Dirigentenberuf qualvoll erlernt hatte über Ulm und Aachen, schuf sich damals als Organisator ein als kühn und revolutionär geltendes Verbundsystem. Für jede große Aufführung stellte er sich ein spezielles, optimales Werkensemble zusammen: verband so die (Festspiel-)Aufführung mit Schallplattenproduktion und Fernsehaufzeichnung. Hinter seiner Lebensleistung steckte genauso viel altmodische Handwerksgenauigkeit wie neumodisches Mediendenken.

IV.

Fernsehaufzeichnungen, so muss er - je älter er wurde, desto mehr - gehofft haben, könnten ihm eine künstlerische Unsterblichkeit bescheren. Natürlich machten die Berliner Philharmoniker dabei mit. Es lohnte ja finanziell. Doch ein wenig missbraucht mögen sie sich dabei auch vorgekommen sein, wenn sie beim Playback Orchestertätigkeit nur simulierten.

Man spürt das manchen Karajanschen TV-Dokumenten an. Sie wirken nämlich durchaus schizophren: pathetisches Getue Karajans, als müsse er Ludwig van Beethovens Emotionen mit bedeutungsschwerem Mienenspiel visuell nachschaffen. Eher passive Instrumentalisten, die unbeteiligt typische Bewegungen ausführen. Und neben dieser bizarren Mixtur ein davon seltsam unabhängiger Orchesterklang...

Alles unendlich fern der Magie mancher Live-Darbietungen auch noch des späten Karajan. Der wusste, als gebeugter, fast unbeweglicher alter Mann, einmal Giuseppe Verdis "Requiem" so magisch verklärt zu zelebrieren, als käme die Totenklage bereits aus dem Paradies.

V.

Über jene unvergleichliche Mischung aus spontan zwingendem, grandiosem "Werden" aus archaischer Tiefe und dem völligen Fehlen aller effektvollen, sentimentalen Drücker, wie Wilhelm Furtwängler sie herzustellen vermochte, wenn er den Trauermarsch der "Eroica" dirigierte, Schuberts (Karajan nie geheure) "Große" C-Dur-Symphonie, die III. Brahms oder den "Tristan" - darüber verfügte Karajan nicht.

Dafür über schöpferischen Klangsinn. Über modern vehemente Tonschlankheit und rhythmische Rasse, über unvergleichliches Gefühl für Gesangsstimmen. Der angeblich so Eitle, Selbstbezogene war ein wunderbar anpassungsfähiger Begleiter. War großartiger Verdi-Dirigent, Puccini-Beherrscher. Verwandler des Beethovenschen "Titanismus" ins Zeitgenössische, jedoch nicht Belanglose.

Was gerade an seinem Richard Wagner-Interpretationen so faszinierend modern wirkte, hatte durchaus zu tun mit dieses Dirigenten produktivem Klangsinn. So bot, beispielsweise, Christa Ludwig die finster-panische Waltraute-Szene aus der Götterdämmerung sowohl in Soltis "Ring"-Aufnahme wie auch bei Karajan. Nur: Karajan hörte und disponierte genauer! Bei Solti dominierte stets die wunderbare Ludwig. Bei Karajan nur dann, wenn Wagner ihr die führende Stimme zugedacht hat. Wo der Komponist dem Orchester das Wichtigere anvertraute, hält Karajan seine Solistin (die ihn als idealen musikalischen Partner vergötterte) klug, wie eine Mittelstimme, zurück.

Merkwürdigerweise hatte Karajan ausgerechnet mit Mozart, obschon selbst Salzburger, manchmal Schwierigkeiten. Vielleicht war die Nähe zu groß. Zu viel Glätte, zu wenig leise Depressivität. Dafür fand er einen wunderbar zart entrückten Ton bei Bruckner.

VI.

So treten einige Umstände zusammen, die Karajans Comeback erklären könnten. Er besaß umfassende Professionalität, während gegenwärtig sehr viel spezialistischere Dirigentenkarrieren zu beobachten sind. Sein Gedächtnis, seine Partiturkenntnis waren bewunderungswürdig universal. Er bot gewisse Werkzyklen immer wieder neu. Und zwar nicht nur die Schlachtrösser der Tradition. Sondern auch Debussy, Sibelius, Schostakowitsch, Strawinsky.

Als altmodischer Könner war er engem Spezialistentum auch geistig überlegen. Das spürten auch die naivsten Karajan-Fans. Eine Popularität, die jahrzehntelang währt, verdankt sich nie bloß dem Zufall oder der Mode. Mittlerweile ermessen wir so schmerzlich wie gründlich, was unser Musikleben einbüßt, wenn technische und spirituelle Könnerschaft nicht gleichsam durch Osmose in den Orchestern als Tradition weiterleben.

VII.

Mein einstiger Mentor Adorno bewunderte Karajan, konnte ihn aber nicht leiden: " Dieser großartige Dirigent hat den Hegel an Beethoven nicht verstanden; man könnte sagen: Die Darstellung des Geistes von Beethovens Musik tut ihrem geistigen Element Unrecht. Aber wie soll man das begreiflich machen, und wem?"

Georg Solti, der weise S. Fischer-Lektor Rudolf Hirsch und Adorno diskutierten einst heftig über Karajan. Karajan habe nur das Sinnliche geboten, mäkelte Adorno. Seine Opponenten hielten dagegen, wäre das Sinnliche vollkommen da, stellte sich doch auch das Geistige ein.

Dieser Disput ging noch weiter. Adornos Forderung, wahre Interpretation müsse alle Relationen sichtbar machen, sei gleichsam die Röntgenfotografie des Werkes, wurde auch Karajan mitgeteilt. Der antwortete nicht unwitzig, es genüge, die sinnliche Erscheinung vollkommen darzustellen, die Struktur teile sich dann ohnehin mit. "Wenn ich eine Frau liebe", so Karajan einleuchtend, "will ich ihren Leib, nicht ihre Röntgenfotografie." Eigentlich ein schöner Schluss. Adorno jedoch, Dialektiker müssen so sein, lechzte nach dem letzten Wort. "Sehr plausibel", meinte er mürrisch. "Aber das ist, wie meist das Plausible, pure Sophistik.''

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