Geschichtsbuch "Weltmärkte und Weltkriege":Handel und Hass

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Ein Tourist fotografiert eine riesige historische Weltkarte in Lissabon - das Historikerprojekt um Iriye, Osterhammel und Rosenberg will einen neuen Blick auf die Globalgeschichte ermöglichen. (Foto: REUTERS)

Kann es eine Geschichte der ganzen Welt geben? Eine Gruppe amerikanischer und deutscher Historiker hat ein Großprojekt begonnen, das in sechs Bänden einen neuen Blick auf die Weltgeschichte eröffnen soll. Im ersten Teil über die Jahre von 1870 bis 1945 gelingt das tatsächlich.

Von Thomas Speckmann

Eine Geschichte der Welt? Gibt es sie? Kann es sie überhaupt geben? Ist Geschichte nicht immer auch subjektiv? Pflegen Kulturen und Nationen nicht jeweils ihre eigenen kollektiven Gedächtnisse - oftmals in Abgrenzung zu den "Anderen"? Gerade weil dies bislang meist so war, hat eine Gruppe amerikanischer und deutscher Historiker ein internationales Großprojekt begonnen, das einen neuen, gleichsam transnationalen Blick auf die Weltgeschichte eröffnen soll.

Geplant sind sechs Bände über die frühen Zivilisationen vor dem Jahr 600, über agrarische und nomadische Herausforderungen zwischen 600 und 1350, über Weltreiche und Weltmeere von 1350 bis 1750, über Wege zur modernen Welt 1750 bis 1870, über Weltmärkte und Weltkriege 1870 bis 1945 und schließlich über die globalisierte Welt seit 1945.

Ein transnationaler Akt

Als Erstes erschienen ist nun der Band über Weltmärkte und Weltkriege, dessen gleichzeitiges Erscheinen in Deutschland beim Verlag C.H. Beck und in den Vereinigten Staaten bei Harvard University Press bereits formal als transnationaler Akt verstanden werden kann. Doch vor allem konzeptionell und inhaltlich wollen die Herausgeber der Reihe Neuland betreten. Dass sie dazu eindrucksvoll in der Lage sind, haben sie längst bewiesen: Der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel hat mit seinem zu Recht hochgelobten Werk "Die Verwandlung der Welt" Bekanntheit weit über seine Fachgrenzen hinaus erlangt.

Akira Iriye von der Universität Harvard, hochdekoriert mit angesehenen Forschungspreisen, hat sich einen Namen gemacht mit Publikationen zur Geschichte der internationalen Beziehungen und zur Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und die an der Universität von Kalifornien lehrende Historikerin Emily S. Rosenberg und Herausgeberin des nun vorliegenden Bandes zu Weltmärkten und Weltkriegen hat mit der Entwicklung einer Kulturgeschichte der internationalen Beziehungen großen Einfluss in ihrer Zunft gewonnen.

Vor dem Hintergrund dieser Vorarbeiten scheinen hohe Erwartungen an das globale Geschichtsprojekt von Iriye und Osterhammel nicht übertrieben, zumal sie von den Herausgebern selbst zusätzlich geschürt werden: Weltgeschichte sei lange Zeit als eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs einer kleinen Zahl von "Hochkulturen" geschrieben worden. Unter diesen Kulturen habe Europa oder der atlantische "Westen" während der letzten Jahrhunderte nach den Kriterien Macht, Wohlstand und kulturelle Kreativität zu dominieren geschienen.

Querbeziehungen und Wechselwirkungen

Von diesen Traditionen will sich das neue Werk verabschieden. Iriye und Osterhammel leugnen zwar nicht die Errungenschaften des Westens, wollen sie aber in den größeren Zusammenhang gleichzeitiger Entwicklungen in anderen Teilen der Welt stellen. Dadurch soll das allmähliche und dabei krisenhafte Entstehen des heutigen dicht integrierten und pluralistischen Weltzusammenhangs sichtbar werden. Dabei soll Weltgeschichte allerdings nicht als Aneinanderreihung einzelner Spezialgeschichten erscheinen. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit von Herausgebern und Autoren auf "bisher wenig beachtete" Querbeziehungen und Wechselwirkungen: Migrationen von Einzelnen und Gruppen, die Gründung neuer Gesellschaften, die interkontinentale Ausbreitung von Technologien, Religionen und politischen Ideen, globale Kommunikationsnetze, Handelsströme und Konsummuster sowie Imperialismus, Kolonialismus und großräumige Kriege.

Ob diese Querbeziehungen und Wechselwirkungen bislang wirklich kaum beachtet wurden, muss allerdings aufgrund der Vielzahl an entsprechenden Veröffentlichungen gerade in den letzten Jahren bezweifelt werden. So hat nicht zuletzt das 2009 erschienene Werk "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914", in dem der Wiener Historiker Philipp Blom die Geschichte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beleuchtet, eine alte Epoche neu entstehen lassen, die der heutigen verblüffend ähnlich scheint: Sie ist erfüllt von Unsicherheit und Erregtheit.

Die Gespräche der Menschen und die Zeitungsberichte sind geprägt von Themen, die auch die Agenda des frühen 21. Jahrhunderts dominieren: neue Technologien, Globalisierung, Terrorismus, neue Formen der Kommunikation und Veränderungen im Sozialgefüge. Schon damals ist das allgemeine Gefühl weit verbreitet von einem Leben in einer sich mehr und mehr beschleunigenden Welt, die ins Unbekannte zu rasen scheint (SZ vom 23. April 2009).

Der Historiker Jürgen Osterhammel ist Mitglied einer Gruppe amerikanischer und deutscher Historiker, die einen neuen, transnationalen Blick auf die Weltgeschichte werfen. (Foto: picture alliance / dpa)

Diese sich bereits vor den beiden Weltkriegen globalisierende Welt ist auch Thema bei Iriye, Osterhammel und Rosenberg. "Weltmärkte und Weltkriege 1870-1945" versammelt Beiträge von Historikern zu einer Welt, die durch die rasanten Fortschritte in Kommunikation und Transportwesen größer und kleiner zugleich wurde. Neue Technologien verkürzten Entfernungen und beschleunigten den Austausch von Menschen, Produkten und Ideen. Folglich behandeln die einzelnen Autoren des Bandes ein Zeitalter, in dem die wachsende globale Vernetzung nicht nur neue Ambitionen weckte, sondern auch Ängste und Rivalitäten schürte, die sich schließlich in zwei Weltkriegen entladen sollten.

Verbreitete Gewaltausbrüche

Auch wenn bereits bedeutende Monografien erschienen sind, die aus einem ähnlichen Blickwinkel die Welt vom späten 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts betrachten, so hebt sich diese Gesamtschau aufgrund der Fülle an Beobachtungen von den bisherigen Veröffentlichungen ab. So wird zum Beispiel in seltener Klarheit deutlich, wie verbreitet schon vor den Weltkriegen bis dahin nicht gekannte Gewaltausbrüche waren.

Im Westen Amerikas, in Australien, Argentinien und Deutsch-Südwestafrika entfernten europäische Siedler systematisch durch Ermordung und Entbehrung die angestammte Bevölkerung von begehrtem Land - vor allem in rohstoffreichen Gebieten - ebenfalls eine Parallele zu heutigen Konflikten. So starben im Kongo schon unter Belgiens König Leopold II. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts schätzungsweise zehn Millionen Menschen.

Das deutsche Kaiserreich wiederum setzte bei der Niederschlagung der Aufstände von Herero und Nama in seiner südwestafrikanischen Kolonie auf Völkermordmethoden. Im philippinisch-amerikanischen Krieg 1899-1903 dezimierten US-Truppen die philippinischen Widerstandskämpfer, pferchten Zivilisten in Lager und gingen im Moro-Konflikt, der sich bis 1913 hinzog, noch deutlich härter gegen den Widerstand auf der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Insel Mindanao vor. Und britisch-ägyptische Truppen nutzten ihre überlegene Feuerkraft, um im Sudan Zehntausende zu töten und das Regime des Mahdi 1898 zu stürzen - Beispiele, anhand derer sichtbar wird, wie sehr die Kolonialgebiete als eine Art Übungsgelände für westliche Truppen dienten und wie "warm" sich die späteren Hauptkriegsparteien in den Weltkriegen zuvor in kolonialen oder regionalen Konflikten gelaufen hatten. Zugleich war, wie der in Harvard lehrende Historiker Charles S. Maier in seinem Beitrag vor Augen führt, das Führen von Kriegen zu einem wichtigen Faktor der Staatsbildung geworden.

Strömungen einer schrumpfenden Welt

Ob Kriegführung, moderne Staatlichkeit, Imperien und Globalität, Migrationen und Zugehörigkeiten, Warenketten in einer globalen Wirtschaft oder transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückte: Bei jedem Thema versuchen die Beiträge die Übergänge und netzwerkartigen Verbindungen des im Wandel begriffenen industriell-kommerziell-imperialen Zeitalters zwischen 1870 und 1945 zu beschreiben und dabei sowohl die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede zu erfassen, die in diesem Zeitraum entstanden.

Denn in eben diesem findet sich das Versprechen der Vernetzung ebenso wie zerstörerischer Hass - beide erzeugt in den Strömungen einer schrumpfenden Welt. Daher stehen in "Weltmärkte und Weltkriege" auch nicht historische Orte im Mittelpunkt, sondern Prozesse. Eine thematische Anordnung, die klugerweise berücksichtigt, dass zeitliche Zuschreibungen und Periodisierungen kontingente Rahmenordnungen bilden. Damit gelingt diesem transnationalen Großprojekt ausgewiesener Historiker eine Geschichtsschreibung, die das Verfassen einer Geschichte der Welt tatsächlich ermöglicht.

Akira Iriye, Jürgen Osterhammel, Emily S. Rosenberg (Hrsg.): Geschichte der Welt. Weltmärkte und Weltkriege 1870-1945. C.H. Beck Verlag, München 2012. 1152 Seiten, 48 Euro.

© SZ vom 07.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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