Geplante Kulturkürzungen:Schwarze Wolke über der Turner-Verleihung

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Für ihre Videoinstallation "The Woolworths Choir of 1979" gewann sie den renommierten Turner-Preis: Elizabeth Price. Viele Chancen hätte sie ohne staatliche Kulturförderung nicht gehabt. (Foto: REUTERS)

"Gefährlichste und einschneidendste Reform dieser Regierung", "selbstmörderisch", "verrückt und bizarr": Großbritanniens Kulturszene demonstrierte am Rande der Verleihung des Turner-Preises an die Videokünstlerin Elizabeth Rice gegen ein gemeinsames Feindbild.

Von Alexander Menden

Elizabeth Price wirkte ein bisschen überwältigt, als sie den Turner-Preis entgegennahm. Die Gewinnerin der bedeutendsten Auszeichnung für zeitgenössische Kunst in Großbritannien hatte in den achtziger Jahren ihre Karriere als Sängerin der britischen Indie-Band Talulah Fletcher aufgegeben, weil sie auf Dauer zu schüchtern war, vor Publikum aufzutreten.

Diese Schüchternheit hielt sie nicht davon ab, in ihrer Dankesrede ausführlich die Kunsterziehung zu würdigen, die ihr in einer Gesamtschule in Luton zuteil geworden war und sie mit der gegenwärtigen Situation zu vergleichen: "Es ist unglaublich deprimierend, wenn man Leute sagen hört, dass ein Mädchen aus Luton, die auf eine Gesamtschule geht, sich heute gar nicht mehr vorstellen könnte, Künstlerin zu werden und nicht die gleichen Chancen bekäme, wie ich sie hatte." Diese Chancen, fügte Price hinzu, hätte sie im Übrigen ohne staatliche Kulturförderung auch nicht gehabt.

Zuvor hatte schon Preisverkünder Jude Law den "Kulturvandalismus" einer Regierung gegeißelt, die den Kunstunterricht im Schulkurrikulum marginalisieren will. Nun sind politische Äußerungen beim Turner-Preis nichts Ungewöhnliches. Aber so geballt wie im Umfeld dieser Verleihung, und so konzentriert auf ein Thema, die Kultur- und Bildungsstrategie der Cameron-Regierung, hat man sie lange nicht gehört.

Es war einiges anders als sonst bei der Preis-Verleihung 2012. Schon deshalb, weil Außenseitersiege, die den Namen wirklich verdienen, bei diesem Wettbewerb Seltenheitswert haben. Der letzte gelang Grenville Davey, der im Jahr 1992 den damals schon ungleich bekannteren Damien Hirst aus dem Rennen schlug. Es herrschte daher ebenso ehrliche wie freudige Überraschung in der Tate Britain, als Jude Law den Namen von Elizabeth Price aus dem Umschlag zog. Denn obwohl es keinen offensichtlichen Favoriten im Viererfeld der Bewerber gab, waren der 46-jährigen Engländerin allgemein die geringsten Chancen eingeräumt worden.

Mit Price siegte die Künstlerin mit dem dichtesten, komplexesten Werk. Ihre 20-minütige Video-Arbeit "The Woolworth's Choir of 1979", beginnt mit digital abgefilmten Fotos eines gotischen Chorgestühls aus dem 14. Jahrhundert, und endet mit Archivaufnahmen eines Kaufhausbrandes in Manchester, bei dem 1979 zehn Menschen starben. Die Bilder sind rhythmisch unterteilt, durch lautes Fingerschnippen und Fetzen aus dem Auftritt einer Sixties-Band. Weniger extravagant als die Tierkostüm-Performances Spartacus Chetwynds, nicht so obsessiv wie die Bleistiftzeichnungen Paul Nobles, weniger episch als die Filmporträts des Schotten Luke Fowler, belohnt Prices Arbeit die Aufmerksamkeit eines Publikums, das bereit ist, selbst Bezüge herzustellen. Es ist ein vielschichtiger Film voller kunsthistorischer Bezüge, und er hat den Preis verdient.

Der Glamour des Anlasses und der Umstand, dass vier sehr eigenwillige Künstler für eine der interessantesten Turner-Ausstellungen seit Jahren sorgten, lenkte indes keine Sekunde von der düsteren Stimmung ab, die Englands Kunstschaffende erfasst hat. Einerseits läuft der Betrieb weiter: Der Turner-Preis wird verliehen; die Tate verkündet, dass Simon Starling, der den Preis übrigens im Jahr 2005 gewann, im kommenden Sommer von der Tate Britain für ein großes neues Projekt gewonnen wurde; Londons Bürgermeister Boris Johnson eröffnet mit viel Trara eine Ausstellung über die Geschichte des "Vierten Denkmalsockels" auf dem Trafalgar Square.

Andererseits arbeitet die britische Regierung offenkundig systematisch daran, die Basis des englischen Kulturlebens auszuhöhlen: Bildungsminister Michael Gove, ideologische Lichtgestalt des rechten Randes der Tory-Partei, will den bisherigen Schulabschluss, die GCSEs, durch ein Zentralabitur ersetzten, in dem Kunst, Theater und Musik keine Rolle mehr spielen sollen. Mit dem "English Baccalaureate" werde "eine neue Epoche" anbrechen, so Gove, in der allein "praxisbezogene" Fächer wie Mathematik, Englisch, Naturwissenschaften und Sprachen für den Abschluss zählen. Die Künste müssen sich die restlichen, bedeutungslosen 20 Prozent des Lehrplans mit Sport und Haushaltslehre teilen.

Aus allen Sparten kommt scharfe Kritik an Goves Plan: Der Dramatiker David Hare hält ihn für die bisher "gefährlichste und einschneidendste Reform dieser Regierung". Komponist Thomas Adés nennt ihn "selbstmörderisch", sein Kollege Andrew Lloyd Webber findet ihn "verrückt und bizarr". Architekt Richard Rogers warnt davor, den Kunstunterricht zu "marginalisieren und zensieren". Alle sind sich einig: Die Struktur des neuen Abschlusses würde jede breitere kulturelle Bildung ins Getto der Mittel- und Oberschicht zurückdrängen, die sich teure Privatschulen und deren außerplanmäßiges Angebot leisten können.

Und auch Tate-Chef Nicholas Serota nahm die Turner-Preisverleihung erneut zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass nun jenes kreative Pfund in Gefahr ist, auf das die Regierung mit Stolz verweist, und das in der Eröffnungsfeier der diesjährigen Olympischen Spiele seinen weitest reichenden Ausdruck fand. Deren Regisseur, der Filmemacher Danny Boyle, kritisierte jüngst darauf, dass die Künste in England nicht nur in Bezug auf ihren Nachwuchs, sondern schon jetzt konkret in ihrer Existenz bedroht sind. Viele Kultureinrichtungen außerhalb der finanziell komfortablen Metropole London kämpfen angesichts rabiater Sparmaßnahmen ums Überleben. Dieses Jahr fielen bereits 19 Millionen Pfund an staatlichen Kultursubventionen weg, woraufhin viele nicht mehr geförderte regionale Institutionen - Theater, Museen, Verlage - schließen mussten.

Weitere Einsparungen wahrscheinlich

Diesen Mittwoch legt Schatzkanzler George Osborne seinen Haushaltsplan vor. Er wird eingestehen, dass die britische Schuldenquote in den kommenden vier Jahren nicht sinken wird. Und er wird mit großer Wahrscheinlichkeit weitere Einsparungen in den staatlichen Kultursubventionen ankündigen.

Die berechtige Sorge, die wie eine schwarze Wolke auch über der Turner-Verleihung hing, ist diese: Wie immer, wenn politische Entscheidungsträger aus Ignoranz oder gar willentlich bestehende Strukturen zerstören, werden diese unwiederbringlich verloren gehen. Der große Verlierer wäre in diesem Fall die kulturelle Vielfalt Englands.

© SZ vom 05.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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