Gender-Debatte:Die klassische Musik hat ein Sexismusproblem

Wiener Philharmoniker

Zum Beispiel die Wiener Philharmoniker: Erst seit 1997 können auch Frauen Mitglieder des weltberühmten Orchesters werden.

(Foto: picture alliance / dpa)

Kaum eine Kulturbranche ist so diskriminierend, zeigt eine Studie. Komponierende Frauen verdienen im Schnitt 35 Prozent weniger - wenn sie überhaupt Aufträge bekommen.

Von Simon Tönies

Die klassische Musik hat ein Sexismusproblem. Das dürfte niemanden überraschen: Man muss sich nur fragen, wie viele Platten berühmter Dirigentinnen im eigenen Wohnzimmerregal stehen, wie viele Opernintendantinnen man kennt oder - und da wird es besonders frappant - wie viele Komponistinnen. Der Konzertkanon bis ins späte 20. Jahrhundert ist ein Männerclub, und danach wird es nur wenig besser.

Clara Wieck, nach mehr als 100 Jahren noch immer die berühmteste Quotenfrau der Musikgeschichte, war zwar eine ambitionierte und begabte Komponistin, musste sich aber nach der Hochzeit dem hegemonialen Gehabe ihres Gatten Robert Schumann unterordnen. Unter den Zeitgenossinnen können erfahrene Konzertgänger zwar noch ein paar weitere Namen aufzählen: Olga Neuwirth, Sofia Gubaidulina, Rebecca Saunders, Adriana Hölszky ... Am verheerenden Gesamteindruck aber ändert das wenig.

Unlängst hat der Deutsche Kulturrat eine Studie veröffentlicht, die einem auf 500 Seiten das vorrechnet, was man schon ahnte: Die Geschlechterkluft in Kunst und Kultur gibt es nach wie vor, doch in der klassischen Musik ist sie besonders tief. Die Zahlen dieser akribisch recherchierten und vorbildlich kommentierten Arbeit sollte man sich vor Augen führen. In Deutschland ist Musik von allen Studienbereichen in Kunst, Kultur und Medien derjenige mit dem niedrigsten Frauenanteil.

Ein Dramaturg schrieb: "Drei Frauen sind zu viel."

Im Wintersemester 2014/15 waren 32 Prozent der Kompositionsstudenten weiblich. Fast möchte man sagen: immerhin. Wie viele Männer waren zur gleichen Zeit als freischaffender Komponist sozialversichert? 3187. Wie viele Frauen? 383. Mögliche Erklärungen für dieses seltsame Ungleichgewicht liefern die Zahlen gleich mit: Vielleicht hat sich der Rest davon abschrecken lassen, dass komponierende Frauen im Schnitt 35 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen - davon leben können die wenigsten. Vielleicht blieben auch schlicht die Aufträge aus. In der Saison 2013 / 14 stammten im deutschsprachigen Raum nur elf von 73 Oper-Uraufführungen von Komponistinnen.

Im Jahr 2001 hatte die österreichische Komponistin Olga Neuwirth einen dieser begehrten Aufträge in der Tasche. Sie war damals Mitte dreißig. Noch heute erzählt Neuwirth von der Arroganz der Intendanten, die sie damals, unzufrieden mit dem Ergebnis, kurzerhand wieder rausgeworfen hätten: "Niemand in der gesamten Musikbranche war solidarisch, obwohl der Auftrag bereits mehrfach veröffentlicht worden war. Der Vorfall wurde sofort unter den Teppich gekehrt, als ob er nicht existiert hätte. Und im Zusammenhang mit meiner Oper "Lost Highway" hat ein Dramaturg in einer E-Mail, die ich heute noch besitze, geschrieben: ,Drei Frauen sind zu viel.'" Drei Frauen, das waren mit Neuwirth die hochdekorierte Medienkünstlerin Valie Export und Elfriede Jelinek, die kurz darauf den Literaturnobelpreis bekam.

Bei den immer noch ausnehmend wichtigen Darmstädter Ferienkursen für neue Musik gehört Olga Neuwirth inzwischen zu den am häufigsten aufgeführten Frauen. Erstmals in ihrer Geschichte haben sich die Ferienkurse im vergangenen Sommer intensiv mit Gender-Fragen auseinandergesetzt. Das war dort ein wichtiges Zeichen. Denn immerhin handelt es sich um die weltweit bedeutendste Institution zeitgenössischer Musik, die nicht nur eine große Diskursmacht besitzt, sondern auch über Karrieren entscheidet.

Wie kann man Verhältnisse schaffen, in denen Mädchen Musik-Nerds sein dürfen?

Unter dem Akronym "GRID" für "Gender Relations in Darmstadt" gab es zum Thema eine Reihe von Vorträgen, Aktionen und Diskussionen, die das Problem der Geschlechterdiskriminierung in der Neue-Musik-Szene systematisch angingen. Dafür hatte die Komponistin Ashley Fure die Archive des Darmstädter Musikinstituts durchforstet und darauf Statistiken vorgelegt, die sich pars pro toto mit den Befunden des Kulturrats decken: In den sieben Jahrzehnten seit 1946 wurden 4409 Stücke aufgeführt - nicht einmal jedes zehnte davon stammte von einer Frau. Und von insgesamt 48 Festivals kamen mehr als die Hälfte mit einer oder gar keiner Komponistin aus.

Ganz so schlimm ist es inzwischen nicht mehr. Thomas Schäfer, der die Darmstädter Ferienkurse seit 2009 leitet, hatte im vergangenen Jahr 21 Komponistinnen aufs Programm gesetzt, ein knappes Viertel, freilich immer noch weniger als die gesetzliche Frauenquote. Und Björn Gottstein, seit 2015 künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage, des zweiten maßgeblichen Festivals neben den Ferienkursen, brachte 2016 immerhin drei Frauen ins Programm. In diesem Jahr werden es schon acht sein, ein solides Drittel. Gottsteins Ziel: mindestens eine Komponistin pro Konzert.

Die Diagnose scheint also angekommen zu sein. Aber damit geht es jetzt erst richtig los. Wie kann man Verhältnisse schaffen, in denen Mädchen Musik-Nerds sein dürfen und Frauen das Risiko eingehen, eine Komponistinnenkarriere einzuschlagen? Wie kann man am Ende über eine Geschlechterbinarität hinausdenken, wenn nicht einmal diese beiden Geschlechter gleich behandelt werden? Klar ist: Festivals wie Darmstadt oder Donaueschingen werden die Probleme nicht alleine lösen können. Aber die institutionelle Selbstkritik ist ein erster Schritt.

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