Friedenspreis für Liao Yiwu:Erinnerung, sprich!

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Eine gute, eine große Wahl: Liao Yiwu erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wie kaum ein Zweiter legte er Zeugnis ab, über all die Lebensgeschichten von Dissidenten, Straftätern, Außenseitern seines Landes, die sonst verschwunden wären. Die Stimmen der Entrechteten Chinas bleiben durch ihn erhalten.

Was für eine erfreuliche Nachricht, was für eine gute Wahl: Der chinesische Schriftsteller und Dissident Liao Yiwu erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der 53-Jährige sei "ein unbeirrbarer Chronist, der Zeugnis ablegt für die Verstoßenen des modernen China", schrieb der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in seiner Begründung.

Wenn er heute in Deutschland unterwegs ist, trägt Liao Yiwu oft nur einen Lederrucksack mit sich herum. Er wirkt dann wie ein Wanderer, für einen Landstreicher ist er zu gepflegt. Das Bild zeigt ihn in der Ludwig-Maximilians-Universität in München, nachdem er im November vergangenen Jahres mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Nun erhält der chinesische Dissident den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2012.  (Foto: dapd)

Das triff den zentralen Punkt von Liaos Ästhetik, sagt der doch immer wieder selbst von sich, er wolle mit seinen Texten nur das Material bereitstellen für das Wirken einer ausgleichenden Gerechtigkeit; er sammle die Geschichten, die sonst verloren gingen; oder wie er es bei einem Treffen in einem Hamburger Café einmal formulierte: "Ich bin das Tonbandgerät meiner Generation".

Mit einem Tonbandgerät fing tatsächlich alles an, mit einem Tonbandgerät und einem Schrei der Verzweiflung. Am Abend vor dem Massaker vom Tiananmen-Platz, am 3. Juni 1989, verfasste der junge Lyriker Liao Yiwu ein achtseitiges Gedicht und nahm es selbst auf Kassette auf.

Wobei "verfassen" und "aufnehmen" viel zu blass ist für das, was da entstand. Der Text muss an diesem Abend eruptiv aus Liao herausgebrochen sein; und er nahm ihn auch nicht einfach auf, sondern schrie und winselte, heulte, stampfte, sabberte, ja es klingt, als würde Liao all seinen Schmerz in dieser Kaskade nach außen stülpen: "Liquidiert alles Schöne", schrie er, so als feuere er die Soldaten in Peking an, "liquidiert alle Gedanken, knallt alles ab!" Am nächsten Tag rollten die Panzer den Widerstand der Studenten platt.

China erstarrte nach Tiananmen in stummer Angst. Diese Kassette aber, immer und immer wieder kopiert, verbreitete sich im ganzen Land. Liao kam dafür ins Gefängnis, wegen "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda". Mit Jod, Blut und kleinen Stöckchen schrieb er dort zunächst weiter seine Gedichte, die "Gulag Love Songs", in denen der sternenübersäte Himmel ein Schädel voller Einschusslöcher ist und die Ameisen glücklich sind, denn "die Stiefel und Schlagstöcke erreichen euch nicht".

Stets eine Flasche scharfen chinesischen Schnaps im Rucksack

Zweimal versuchte er in dieser Zeit, sich umzubringen - denn ihn erreichten sie sehr wohl, die Gefängniswärter genauso wie die brutalen Zellenchefs, die alle Neuankömmlingen erst einmal dazu zwangen, aus dem Latrineneimer zu trinken.

Wenn er heute in Deutschland unterwegs ist, trägt Liao Yiwu oft nur einen Lederrucksack mit sich herum. Er wirkt dann wie ein Wanderer (für einen Landstreicher ist er zu gepflegt, die frischrasierte Glatze, die wattierten chinesischen Jacken . . . ). In diesem Rucksack steckt stets eine Flasche scharfer chinesischer Schnaps. Sie ist, wie er selber sagt, sein wichtigstes Utensil als Autor, wichtiger als der Stift, löst sie doch seinen chinesischen Gesprächspartnern die Zunge.

Und dann ist da noch seine Xiao, die Flöte, die ihm seinerzeit im Gefängnis das Leben gerettet hat, weil nur sie ihn in den unsichtbaren Raum führen konnte, in den die Schergen und sadistischen Zellenbosse nicht hinterherkamen: "Die Musik hat mich gerettet, dieser Raum außerhalb der Sprache, in dem man völlig aufgehen kann. Wenn ich schreibe, ist alles vollkommen schwarz. In der Literatur gibt es nichts zu beschönigen, weil es nichts Schönes gibt. Die Musik ist der freie Raum."

Vier Lehrmeister im Leben

Musiker wurde er im Gefängnis. Gleichzeitig zerstörte die Erfahrung der Haft etwas in ihm: Er konnte danach keine Gedichte mehr schreiben. Während er aber im Gefängnis für viele zum Tode Verurteilte den letzten Abschiedsbrief oder das Testament verfasste; während er mitbekam, wie Häftlinge noch mit dem Frühstück im Mund hingerichtet wurden; während ihm all die hier versammelten Outlaws ihre Geschichten anvertrauten, wuchs in ihm der Entschluss, Zeugnis abzulegen, all die Lebensgeschichten von Dissidenten, Straftätern, Außenseitern, die sonst verschwunden wären, aufzuheben.

Zwei dieser Zeugnisse sind bislang auf deutsch erscheinen: Da ist "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser", Gespräche von ganz unten, Geschichten, die in keinem chinesischen Geschichtsbuch stehen könnten, erzählen sie doch von den schmutzigen Rändern dieser Gesellschaft. Er schreibt darin einmal, dass er nur vier Lehrmeister im Leben gehabt habe: "Hunger, Schande, Obdachlosigkeit und Gefängnis."

Noch härter, eindringlicher, grausamer, aber auch literarisch eindrucksvoller ist "Für ein Lied und hundert Lieder", Liaos Bericht über die Jahre im Gefängnis. Es fängt damit an, dass ihm seine Mitgefangenen eine "Speisekarte" überreichen, auf der er sich selbst eine Art Initiationsfolter aussuchen soll - von "geräucherte Ente auf Sichuan-Art", bei der die Genitalien schwarz geräuchert werden, bis zu "Rachengeschnetzeltem", wo der Adamsapfel zerschmettert wird.

Erinnerung, die bis heute körperliche Schmerzen bereitet

Dreimal habe er dieses Buch schreiben müssen, erzählt Liao und holt seine Schnapsflasche hervor - weil das Manuskript zweimal konfisziert und vernichtet wurde. Während er auch dem Gegenüber das höllisch scharfe Gebräu anbietet, berichtet er von einem immer wiederkehrenden Albtraum.

Ein Funktionär schneide ihm in aller Seelenruhe den Kopf auf, um ihm dann die Nervenzellen einzeln aus dem Gehirn zu ziehen, "wie sehr lange Nudeln, die mein Peiniger einzeln verschlingt". Er schenkt Schnaps nach und lacht kurz, vielleicht auch, weil in diesem Bild so vieles zusammenkommt: Die Folter, die das Gedächtnis auslöschen soll; und die Erinnerung, die bis heute körperliche Schmerzen bereitet.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lobte Liao Yiwu in seiner Begründung als Autor, "der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines Landes eine weithin hörbare Stimme verleiht."

Das tut er auch weiterhin: Im Herbst erscheint sein neues Buch "Die Kugel und das Opium - Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens". Jahrelang hat er dafür heimlich Interviews geführt - mit den Augenzeugen und den Angehörigen der Opfer des Massakers vom 4. Juni 1989.

© SZ vom 22.06.2012/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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