Frankreich und der Fall Strauss-Kahn:Sex und Macht

Ein Land namens Machosistan: Die Affäre um Dominique Strauss-Kahn stürzt Frankreich in eine Identitätskrise. Verliert die Grande Nation ihre verlogene Leichtigkeit und versinkt in einem verbissenen Geschlechterkampf?

Stefan Ulrich, Paris

Eine gewisse Erleichterung ist zu spüren in Frankreich. So schlecht hat er sich dieses Mal nicht geschlagen, der tief gefallene Dominique Strauss-Kahn. Während er bei seinem ersten Auftritt vor der Justiz in New York noch bejammernswert verstört wirkte, gewann er nun, bei der Anhörung am Montag, an Fassung.

Former IMF chief Dominique Strauss-Kahn departs the New York State Criminal Courthouse with his wife Anne Sinclair after entering a plea of not guilty during a hearing in New York

Dominique Strauss-Kahn mit seiner Ehefrau Anne Sinclair beim Verlassen des Gerichtes in New York: Frankreich fragt sich langsam, ob sich hinter dem formidablen Siegertypen Strauss-Kahn tatsächlich ein zwielichtiger Mann verbergen könnte.

(Foto: REUTERS)

Der frühere Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) strahle schon wieder eine gewisse Autorität aus, beruhigten die Reporter der Nachrichtensender die Franzosen. Ihr einstiger Polit-Star und Präsidentschaftsanwärter mag am Ende frei gesprochen oder wegen Vergewaltigung einer Hotelbediensteten bestraft werden - er wird sich jedenfalls ein würdiges Auftreten bewahren.

Die Würde des Dominique Strauss-Kahn. Frankreich ist sie besonders wichtig. Denn das Land nimmt den Fall persönlich. Brechen nicht gerade in Amerika alte Ressentiments durch? Wird die Republik nicht als libertär und moralisch verkommen geschmäht? Sitzt sie nicht mit auf der Anklagebank in New York? Und wie wird am Ende das Urteil lauten, das die Welt über Frankreich fällt? Es geht um mehr als die Würde Strauss-Kahns. Frankreich fühlt sich herausgefordert durch dieses spektakulär inszenierte Strafverfahren in den USA.

Als die Botschaft von der Festnahme des IWF-Chefs vor dreieinhalb Wochen in Paris einschlug, reagierten viele Franzosen zunächst mit Verdrängung. Von einer Verschwörung war die Rede. Eine Mehrheit glaubte daran. Denker wie der Philosoph Bernard-Henri Lévy und der frühere Kulturminister Jack Lang sprangen Strauss-Kahn zur Seite.

Manche vergriffen sich dabei im Ton, etwa der Publizist Jean-François Kahn, der erklärte, bei dem inkriminierten Vorgang im New Yorker Sofitel Hotel handle es sich wohl nur um "Schürzenjägerei nach Domestiken". Sozialistische Spitzenpolitiker vergossen derweil öffentlich Tränen - nicht über die womöglich vergewaltigte junge Frau, sondern über den möglichen Täter und Parteifreund Strauss-Kahn.

Von Omertà ist die Rede

Doch nun, da der erste Schock überwunden ist, öffnet sich das Land dem Zweifel. Falls sich hinter dem formidablen Siegertypen Strauss-Kahn tatsächlich ein zwielichtiger Mann verbergen sollte, könnte es dann nicht sein, dass auch die strahlende Kulturnation Frankreich düstere Seiten kaschiert? Von "Omertà" ist die Rede, dem aus der Mafia-Szene bekannten Gesetz des Schweigens. Es wird nun durchbrochen.

Um es mit einem Sprachbild Alice Millers auszudrücken: Frankreich erlebt in diesen Tagen den Abbruch der Schweigemauer. Alles wird in Frage gestellt. Der Umgang der Politiker mit der Macht, die Arbeit der Journalisten, die Ausbildung der Eliten, die französische Flirtkultur und das Verhältnis der Geschlechter. Nun beginne die "Ära des großen Auspackens", schreibt das Wochenmagazin Nouvel Observateur. Es widmet seine aktuelle Ausgabe dem Thema "Das Frankreich der Machos" und fragt: "Sind die Gallier unbeugsame und unerträgliche Machos geblieben?"

Eine Antwort gibt der Philosoph Vincent Cespedes. Das Land werde von einer kleinen Elite weißer Männer beherrscht, die sexuelle Potenz mit Macht gleichsetze. "Phallokratie" nennt das Cespedes. Die frühere Justizministerin Rachida Dati meint, viele männliche Politiker wähnten sich immun gegen Strafe. Die Libération zitiert eine amtierende Ministerin, die anonym bleiben möchte, mit den Worten: "Wenn alle, die Macht und Sex vermischen, zur Rechenschaft gezogen würden, geriete die Hälfte unserer politisch Verantwortlichen in Schwierigkeiten."

Im Land der großen Revolution rollen auch Köpfe

So geht das tagaus, tagein, in allen Blättern, auf allen Kanälen. Dies wirkt, als löse der Fall Strauss-Kahn eine kollektive Katharsis aus. Viele Kommentatoren behaupten, Frankreich werde nach dem New Yorker Sexskandal nicht mehr dasselbe Land wie vorher sein. Ein Abgeordneter spöttelt, er wage ja schon nicht mehr, einer Mitarbeiterin Guten Tag zu sagen, aus Angst, wegen sexueller Belästigung angezeigt zu werden.

Doch es wird nicht nur geredet. Im Land der großen Revolution rollen auch Köpfe. Affären, die noch vor kurzem locker ausgesessen worden wären, geraten ihren Protagonisten nun zum Verhängnis. Als einer der Ersten bekam Georges Tron die neuen Verhältnisse zu spüren, der bisherige Staatssekretär für den öffentlichen Dienst. Zwei frühere Mitarbeiterinnen beschuldigten ihn sexueller Übergriffe. Tron bestritt vier Tage lang alles - und trat dann zurück. Nach nur vier Tagen. Frankreich staunte.

Schaudernde Faszination für die Regierenden

Auch Jean-François Kahn, der von "Schürzenjägerei nach Domestiken" sprach, zieht offenbar Konsequenzen. Er will mit dem Journalismus aufhören. Seine Worte werden von Feministinnen als Beispiel dafür zitiert, wie tief der Sexismus das Land verseuche. Andere einflussreiche Männer müssen vor Enthüllungen zittern. So raunt Ex-Bildungsminister Luc Ferry, er wisse von einem Kollegen, der in Marokko an einer Sexparty mit kleinen Jungen teilgenommen habe. Andere Politiker fordern Ferry nun auf, zur Polizei zu gehen, statt mit den Medien über so eine Tat zu plaudern.

Auch immer mehr Opfer beginnen zu sprechen. In Frankreich, so wird geschätzt, werden jährlich 75.000 Frauen vergewaltigt. Nur jedes zehnte Opfer zeigt den Täter an. Dies könnte sich ändern. Hilfsvereinigungen für Frauen melden seit der Festnahme Strauss-Kahns deutlich mehr Anfragen als bisher. Die Feministinnen im Land der Simone de Beauvoir finden wieder mehr Gehör. Sie agieren mit Demonstrationen und Petitionen - und bekommen Unterstützung von linken wie rechten Politikerinnen.

So klagt Sportministerin Chantal Jouanno, eine zwölffache französische Karatemeisterin, sie wage sich nicht mehr im Rock in die Nationalversammlung, aus Angst vor Belästigungen. Andere Frauen erzählen von Politikern, die sich wie selbstverständlich an Mitarbeiterinnen oder Journalistinnen vergriffen. Besonders gefährdet sollen die Assistentinnen etlicher Abgeordneter sein. "Die Politik ist ein sehr narzisstisches Milieu, in dem die Männer nach Attributen der Macht suchen", drückt es Séverine Tessier aus, die jahrelang die Gewerkschaft der Parlamentsmitarbeiter anführte. Im Verborgenen der Büros passiere vieles.

So entsteht, Mosaikstein auf Mosaikstein, das Bild eines Landes namens Machosistan, das von frivolen Faunen dominiert zu sein scheint. So übertrieben dieses Bild ist, so deutlich wird, dass das schwüle Klima des Versailler Königshofes in der Republik weiter wirkt. Noch immer maßen sich manche Mächtige eine Art jus primae noctis an; und noch immer blicken zu viele Franzosen mit einer schaudernden Faszination auf ihre Regierenden, was deren Kontrolle erschwert.

Zugleich scheinen sich viele französische Journalisten für die Missstände verantwortlich zu fühlen, weil sie vieles wussten, aber aus Diskretion oder Sorge um ihre Karriere verschwiegen. Bislang wird in Frankreich der Schutz der Privatsphäre sehr hoch gehalten. Das Bett des Politikers ist tabu. Nun sieht sich das Land mit einer radikal anderen Kultur konfrontiert - der nordamerikanischen. Diese verlangt den gläsernen Politiker und stellt die Informations- und Meinungsfreiheit im Zweifel über den Schutz des Privatlebens. Der Fall Strauss-Kahn steht daher auch für den Kampf zweier Kulturen.

Die französischen Journalisten fühlen sich nun veranlasst, ihre Arbeitsweise zu überdenken. Keiner will das amerikanische System übernehmen. Doch viele fragen sich, ob sie sich nicht mitschuldig gemacht haben, indem sie etwa über Strauss-Kahns aggressiven Umgang mit Frauen schwiegen.

Doppelleben mit Steuergeld finanziert

"Es ist Zeit, Tabus zu brechen", fordert der Libération-Korrespondent Jean Quatremer. Journalisten müssten Transparenz schaffen, ohne zur Schlafzimmerpolizei zu verkommen. So sei es falsch gewesen, aus Rücksicht auf das Privatleben des früheren Präsidenten François Mitterrand zu verschweigen, dass dieser sich eine Zweitfamilie hielt. Mitterrand habe sein Doppelleben mit Steuergeld finanziert. Das sei von öffentlichem Interesse. Im Übrigen könne man schlecht von "Privatleben" sprechen, wenn Politiker Mitarbeiterinnen belästigten.

Frankreich sucht eine neue Balance zwischen Öffentlichem und Privatem, aber auch zwischen Frauen und Männern. Im Zuge der Strauss-Kahn-Affäre wird deutlich, dass im Lande der égalité nicht von Gleichberechtigung gesprochen werden kann. Auf das Problem mit dem Röcketragen im Parlament angesprochen, sagte die Abgeordnete Valérie Boyer: "Das wirkliche Thema ist nicht, wie wir uns kleiden, sondern warum wir so wenige in der Nationalversammlung sind." Nur 18,5 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. In den Vorständen der großen Konzerne liegt der Frauenanteil bei 15 Prozent. Die Fragen, die sich Frankreich stellt, reichen über das Verhältnis von Sex und Macht hinaus.

"Mit der Strauss-Kahn-Affäre beginnt eine neue Ära, in der nicht mehr alles erlaubt ist und nicht mehr alle schweigen", freut sich die Zeitschrift Express. "Die Politiker werden einen erotischen Winter kennenlernen."

"Verführung, das ist das Leben"

Wie auch immer: Die Entwicklung weg von einer lateinisch-mediterran-patriarchalisch geprägten Kultur verläuft derzeit stürmisch. Manche befürchten bereits, Frankreich könne seine Leichtigkeit verlieren und sich in einen verbissenen Geschlechterkampf stürzen. Noch kann der Philosoph Lévy schmachten: "Verführung, das ist das Leben. ... Wir in Frankreich erotisieren alle unsere Beziehungen so stark wie möglich." Doch wie lange noch?

Die Philosophin Sylviane Agacinski schreibt in Le Monde, lange sei die Frau als Verführerin dargestellt worden, die den Mann ins Unglück stürze. Nun dürfe nicht umgekehrt der Mann zum Ausbund wilder Gewalt erklärt werden. Auch sei es gefährlich, die Eliten pauschal an den Pranger zu stellen. Politiker und Medien gefielen sich derzeit in scheinheiligen Beschuldigungen und Selbstgeißelungen. Die Philosophin rät stattdessen zu einer "Kultur gegenseitigen Respekts". Vielleicht wird der Abriss der Schweigemauer Frankreich helfen, diese Kultur aufzubauen.

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