Filmfest Venedig 2012:Ruf des Sektenführers

Der Wettbewerb des Filmfests von Venedig startet mit zwei Meistern ihres Fachs. Paul Thomas Anderson sucht über die Geschichte des Scientology-Gründers Hubbard nach Sinn und Hoffnung, Terrence Malick nach Liebe. Die besten Antworten auf drohende Sinnfragen findet der Zuschauer dann im schlichten, menschlichen Liebesspiel.

Tobias Kniebe, Venedig

Am frühen Morgen, bevor die Pressevorführungen losgehen, sind die Gassen entlang der Kanäle, die den Lido durchkreuzen normalerweise leer. Ein alter Mann trinkt da vielleicht einen Espresso, ein anderer klemmt sich die Zeitung unter den Arm, dazwischen strebt ein einsamer Kritiker zum Festivalpalast. Am Samstagmorgen aber fand eine Völkerwanderung statt. An jeder Ecke bogen neue aufgeregte Menschen in den Strom Richtung Kino ein. Der Meister hatte gerufen.

Filmfest Venedig 2012: Madisen Beaty, Philip Seymour Hoffman und JoAnne Sellar zur Premiere des Films "The Master" im Rahmen der Filmfestspiele in Venedig.

Madisen Beaty, Philip Seymour Hoffman und JoAnne Sellar zur Premiere des Films "The Master" im Rahmen der Filmfestspiele in Venedig.

(Foto: Agency People Image)

"The Master" von Paul Thomas Anderson ist der am dringlichsten erwartete Film dieses Festivals. Die Buchmacher in London handelten ihn schon letzte Woche als wahrscheinlichsten Löwengewinner, als noch keiner das Werk gesehen hatte. Eine Art Biografie des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, die dramatische Chronologie seines Aufstiegs zum Sektenführer, vom Regisseur von "Magnolia" und "There Will Be Blood" - das musste Sprengstoff sein. Wenn die Gerüchte über die Story denn stimmten. Sie köcheln seit Jahren, wurden dementiert und dann doch wieder bestätigt. Zugleich wurde die Wartezeit auf den Film immer länger. Viele Festivaltermine verstrichen - bis Alberto Barbera, der neue Chef in Venedig, den Coup melden konnte: Zu seinem Einstand würde das Ding endlich fertig sein.

Und das ist es. Gleich bei den ersten majestätischen, herrlich altmodischen Siebzig-Millimeter-Bildern, die das Blau das Pazifiks zeigen, beim ersten, scheinbar noch unmotivierten, dräuenden Großeinsatz der Musik von Radioheads Jonny Greenwood, gleich zu Beginn als weiß man - hier will mal wieder jemand eine Ansage machen. Und dann beginnt die Sage eines amerikanischen Drifters namens Freddy Quell, einer wilden und zutiefst kaputten Seele. Im Pazifikkrieg hat er zu viele Tote und zu wenige Frauen gesehen, die Navy attestiert ihm ein posttraumatisches Nervenleiden, die pastellfarbenen fünfziger Jahre beginnt er als sexbessener Verlierer, Trinker und Troublemaker. Außer seinen selbstgebrauten Schnäpsen gelingt ihm praktisch nichts.

Getilgte Gedächtnisse und eine mögliche Invasion aus dem All

Der Meister ist das noch nicht, aber der Schüler. Eine verlorene Seele auf der Suche nach Halt, Führung und Sinn. Und eines Tages will es das Schicksal, dass er am Hafen von San Francisco entlangtaumelt, wie so oft benebelt von seinem eigenen Stoff. Dort ankert ein strahlend erleuchteter Dampfer, auf dem Musik erklingt, Menschen tanzen und lachen, und scharen sich um einen feisten, raumgreifenden Lebemann namens Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman), der alle um sich herum in seinen Bann schlägt. Freddie hat seine Rettung gefunden - oder vielleicht auch nicht. Denn die Geschichte entspinnt sich dann doch ganz anders, als es die Spekulationen vorher vermuten ließen.

Schon die Frage nämlich, was "The Master" mit Scientology und L. Ron Hubbard zu tun hat, ist nicht in einem Satz zu beantworten. Auf der einen Seite sind die Inspirationen klar. Lancaster Dodd propagiert eine neue Technik der Hypnose und Persönlichkeitsanalyse, die schädliche Prägungen aus der Vergangenheit aufspüren und "löschen", aus dem Gedächtnis tilgen will, auch wenn diese schon Milliarden Jahre alt sind und der Seele über viele Inkarnationen anhaften.

Er will die "tierischen Impulse" des Menschen überwinden, er fürchtet Invasionsarmeen aus dem All, er hält einen Kongress für seine Anhänger in Phoenix ab und siedelt nach England über, als seine Bewegung wächst. All das ist Hubbard pur. Sogar die Fragen, die Paul Thomas Anderson in Lancaster Dodds "Persönlichkeitstest" benutzt, sind weitgehend von Hubbard übernommen. Wenn Anderson in Venedig also erklärt, er sei "eindeutig" von Hubbard und Scientology inspiriert, bestätigt er nur das Offensichtliche.

Ringen um eine einzige Seele

Und doch geht es ihm erkennbar um etwas völlig anderes, als Scientology zu verdammen, zu propagieren - oder überhaupt zu bewerten. Anhänger, Zweiflern und Gegner kommen alle zu Wort, aber eher nebenbei, und die realen Verwicklungen der Scientology-Frühzeit interessieren Anderson auch nur am Rande. Tatsächlich nämlich will er eine spirituelle Liebesgeschichte zwischen zwei Männern erzählen, zwischen dem Meister und Freddie, seinem schwierigsten Patienten und Schüler. Damit das aber funktionieren kann, muss Dodd als Persönlichkeit doch vielschichtiger sein als ein Hubbard-Verschnitt. Sektenführer hin oder her, letztendlich ringt dieser Meister vor allem um eine einzige Seele - und dabei helfen ihm dann auch die eigenen Lehren nicht viel.

Joaquin Phoenix knüpft mit seiner Performace als Freddie Quell an seine unvergessliche Tour de Force als römischer Wahnsinnskaiser Commodus in "Gladiator" an, lässt die Zerissenheit aber noch tiefer in sich eindringen. Mit der Szene, in der er mit gefesselten Händen eine Gefängniszelle zertrümmert, schafft er es auf Anhieb in die Spitzengruppe der "Raging Bulls" der Filmgeschichte. Faszinierend wird das immer dann, wenn er direkt auf Philip Seymour Hoffman trifft, und Auge in Auge mit ihm um Wahrheit und Lüge, Trieb und Trauma, Rettung und Verdammnis ringt. Nur weil Paul Thomas Anderson diese Spannung nicht immer durchhalten kann, ist "The Master" am Ende doch weniger ist als die Summe seiner starken Teile.

Faszinierend ist aber vor allem die Erkenntnis, das Lancaster Dodd hier nicht nur Scientology repräsentiert, sondern das ganze moderne Ideenkonglomerat zwischen Persönlichkeitsoptimierung, Psychoanalyse und Resozialisierung. Dem gegenüber steht das "Tier" in Joaquin Phoenix: Mal masturbiert er vor aller Augen am Strand, mal sieht er auf einer Dinnerparty alle Frauen nackt, dann wieder schlägt er Lancaster Dodds Gegner brutal zusammen. Die Rückkehr zu seinem Jugendschwarm ist ihm dagegen verstellt, bei höheren Gefühlen der Liebe sabotiert er sich selbst - und leidet darunter. Aber am Ende ist es dann aber genau das "Tierische", das er nicht loswird, das ihn auch davor bewahrt, nur Sklave des Meisters zu sein, in dessen Sekte aufzugehen. Seine Zukunft liegt, so kaputt sie auch sein mag, in der Freiheit.

Eine Sinnsuche völlig anderer Art, und doch am Ende getrieben von derselben Sehnsucht nach Antworten ist dann der zweite große Film des Wochenendes, Terrence Malicks "To The Wonder". Dem Wunder entgegen - was für ein Titel! Er stammt aus dem Satz, den eine Frauenstimme im Off einmal sagt, körperlos, fast flüsternd, verliebt: "Dann sind wir die Treppen hinaufgestiegen, dem Wunder entgegen." Mit ihr steigt in diesem Moment die Musik auf, Wagners "Parsifal"-Ouvertüre, bis in spirituelle Höhen. Doch dann hat alles doch wieder eine ganz alltägliche Deutung. Zwei Liebende, Olga Kurylenko und Ben Affleck, besuchen den Mont Saint-Michel in der Normandie, und das Kloster dort oben heißt eben wirklich "La Merveille", das Wunder.

Schönheit kann den Durst nach Sinn nicht stillen

Dieses Flirren der Bedeutungen zwischen dem, was noch irdische Kinobilder und Erklärungen sind, und dem Sprung ins Metaphysische - darum geht es hier für Malick, den großen Sinnsucher des amerikanischen Kinos. Fast übergangslos führt er hier weiter, was er im letzten Jahr mit "Tree of Life" begann: Seine Suche nach Schönheit in den Frauengesichtern, die derzeit wohl keiner schöner filmt. Dieses Wirbeln der Röcke und Haare im Wind, die ausgebreiteten Engelsarme vor dem Frühlingslaub von Paris, vor der Weite der amerikanischen Prärie.

Malick filmt das mit der Instistenz und Traumverlorenheit einer frühkindlichen Fixierung. Sein Partner ist dabei Jörg Widmer, dieser deutsche Großmeister der mitwirbelnden Steadycam. Dazu kommen diese nicht bösen aber doch zu verschlossenen Männer, an denen das mögliche Glück immer wieder zerbricht. Es geht um nicht viel mehr als um die Geschichte dieses Paares, sie russisch-französisch, er Amerikaner, für die Schönheit und Zärtlichkeit und Licht und Luft irgendwie nicht reichen, um Ruhe zu finden. Auch der Glaube (hier repräsentiert durch den Priester Javier Bardem) hilft ihnen dabei nicht.

Die dringliche Suche seiner Figuren ist auch Malicks eigene Suche, das ist sehr klar zu spüren. Fürs erste scheint er zu der Einsicht gekommen zu sein, dass auch die Schönheit der Welt den Durst nach Sinn nicht mehr stillen kann. Paul Thomas Anderson ringt mit denselben Fragen, kommt aber zu einem anderen Ergebnis. Am Ende zeigt er Freddie Quell, den Scientology-Aussteiger, der seinem Meister Lebewohl gesagt hat, einfach mit einer Frau im Bett. Sie ist nicht bemerkenswert attraktiv, sie verkörpert weder Triumph noch Heilung - aber sie hat eine eigene, überzeugende Sinnlichkeit. Und wie sie da so lachen und herumalbern während des Liebesspiels, schlicht und menschlich: Das ist dann doch vielleicht die beste Antwort, die man allen drohenden Sinnfragen entgegensetzen kann - und den Meistern, die sie zu lösen vorgeben.

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