Fan-Fiction: Harry Potter:Die unendliche Geschichte

Was in "Harry Potter und der große Trichter" geschieht, möchte man lieber gar nicht wissen. Rowling wollte durch ihre Kitsch-Klammer am Ende des letzten Harry-Potter-Bandes der Fan-Fiction eigentlich Einhalt gebieten. Doch der Mythos des Zauberlehrlings ist im Internet beliebt wie nie.

Hannah Lühmann

Harry Potter hat die Zauberschule Hogwarts nach fünf Jahren verlassen. Er hat gegen Leopardendrachen gekämpft und ist durch eine Fata Morgana in ein geheimnisvolles Reich gelangt. Klingt unvertraut? In China haben sich Plagiatoren längst daran gemacht, vor Erscheinen des jeweils nächsten Bandes weitere Abenteuer des "Auserwählten" zu ersinnen. Allerdings aus kommerziellem Kalkül, nicht aus Liebe zum kindlichen Helden. Was in "Harry Potter und der große Trichter" geschieht, möchte man lieber gar nicht wissen.

Daniel Radcliffe, Emma Watson

Nicht nur für Emma Watson (r.) und Daniel Radcliffe (l.) war es ein schwerer Abschied: Mit dem Kinostart des letzten Teils der Harry-Potter-Saga endete eine Ära. Die Fans wollen das nicht hinnehmen, und erfinden kurzerhand ihre eigenen Fortsetzungen.

(Foto: AP)

Aber auch anderswo lebt Harry Alternativleben - sie werden ihm von seinen Fans geschenkt. Die Mitglieder des ersten großen deutschen Harry-Potter-Fanclubs "HPFC" schreiben derzeit gemeinsam an einem achten Band, von dem schon 26 Kapitel fertig sein sollen. Was sie betreiben, nennt man "Fan Fiction", und es ist kein neues Phänomen. Michael Ende, der Autor der "Unendlichen Geschichte", ließ einst, wann immer etwas offen blieb, den Satz fallen: "Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden." Leser auf der ganzen Welt tun dies seit Jahrzehnten: die anderen Geschichten erzählen. Die Fans arbeiten weiter mit den Charakteren eines Buches, eines Filmes oder einer Serie, lassen Tote auferstehen oder dichten Hintergründe hinzu.

Das Vorhaben, einen weiteren Potter-Band zu schreiben, nimmt sich dabei noch recht konventionell aus. Ruft man im Internet Foren wie das englischsprachige fanfiction.net auf, findet man allein zu "Harry Potter" 54 780 Einträge, aber natürlich werden auch Epen wie "Herr der Ringe" (45 138 Einträge) von Lesern weitergesponnen. Es gibt Fan Fiction zu Sartre und natürlich zu "Twilight", dem blutarmen Vampirroman-Substitut, das nach Harrys offiziellem Ende bleibt.

Manche Verlage und noch lebende Autoren ärgert die Entführung "ihrer" Charaktere. Joanne K. Rowling aber ermutigt sogar zum Schreiben von Fan-Prosa. Allerdings mit Einschränkungen: Will man die in Fan-Kreisen stark rezipierte "draco triology" derzeit öffnen, wird man darauf hingewiesen, dass der Link auf Wunsch der Autorin deaktiviert wurde. Woher aber kommt das Bedürfnis, die Helden nicht gehen lassen zu wollen?

Viele der jetzt Anfang Zwanzigjährigen sind mit Harry Potter groß geworden. Sie kamen um das Jahr 1998 herum auf die Oberschule, als die Eulen Harry den Brief der Schule für Hexerei und Zauberei brachten. Sie träumten sich über Jahre hinein in eine Welt, in der es Butterbier zu trinken gibt und zu Weihnachten Christbäume in den Hallen des Schul-Schlosses schweben. Sie standen am Anfang der Verfilmung skeptisch gegenüber und gingen dann doch zu jeder Premiere; besonders Hartnäckige setzten sich dabei Zauberhüte auf den Kopf. Es scheint nur allzu verständlich, dass diese Generation ihren heroischen Altersgenossen nicht ziehen lassen will. Der letzte Kinobesuch ist ein umgekehrtes Initiationsritual, eine Art Tritt, der sie endgültig aus der Kindes- in die Erwachsenenwelt befördert.

Lebendiges Eigenleben

Aber warum führt gerade Harry Potter ein so lebendiges Eigenleben? Vielleicht liegt es an der schieren Menge der Rezipienten. Die Besucherzahlen der Filme schreiben Rekorde, und anlässlich des Kinostarts stieg auch der Verkauf des letzten Buches noch einmal um 35 Prozent. Es ist eine Wechselschleife der Rezeption von Film und Buch entstanden, wie es sie so noch nie gegeben hat. Es ist naheliegend, dass die wechselseitige Potenzierung der Rezeption den Willen zum Weiterspinnen beflügelt. Und es kommt ein weiteres Medium hinzu: Ein Großteil der entfesselten Phantasie der Potter-Fans entlädt sich im Internet, in Foren und auf Fan-Seiten.

Damit geschieht etwas anderes als die schlichte Fortsetzung einer geliebten Romanreihe durch die Fans. Noch 1999 wurde dem Bertelsmann Verlag das Recht zur Vermarktung von "Laras Tochter" abgesprochen, einem Fortsetzungsroman zu Boris Pasternaks "Doktor Schiwago". Das Buch orientiere sich zu stark am Original, um eine eigenschöpferische Leistung darzustellen.

Gefangen zwischen zwei Buchdeckeln

So etwas wird den Fan-Schreibern von heute kaum jemals vorgeworfen. Und damit müssen sie die Endlichkeit geliebter Romanschöpfungen nicht mehr akzeptieren. Eine Geschichte in einem Buch, in wie vielen Bänden sie auch erscheint, hat ein Ende. Und zwar durch die schiere physische Begrenztheit ihrer Phantasiewelt, die zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist. Fan Fiction aber ist virtuell unbegrenzt. Man könnte sagen, dass Harry Potter damit endgültig zu einem modernen mythischen Helden wird.

Denn anders als die meisten Epen sind Mythen keinem Verfasser zuzuordnen. Die griechische oder isländische oder germanische Sagenwelt aber gehört all denen, die sie von jeher weitererzählt haben. Auch Harry Potter könnte bald allen gehören. Dieser Kollektivbesitz eines Helden durch die Entbindung von seiner Autorin, die auch noch ihr absegnendes Einverständnis zur Nestflucht aus dem Verlag gibt, ist in diesem Ausmaß nur möglich durch das Internet. Dort macht sich eine ganze Lesegeneration zu einer Art Metasubjekt des Autors. Die Fans holen Harry aus der Beschränktheit seiner literarischen Herkunft heraus und schicken ihn in eine Welt der unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten.

Außerdem ist das Harry-Potter-Universum eben nicht nur eine Kinderwelt der hüpfenden Schokoladenfrösche, es ist auch eine Welt, in der Gefolterte dem Wahnsinn verfallen, in der Nicht-Magier versklavt und gequält werden sollen und vor allem: eine Welt, deren Protagonist selbst auf unauflösbare Weise mit dem Bösen verknüpft ist. Denn Lord Voldemort, von den meisten Magiern aus mythischer Urangst vor dem Namen des Urbösen nur "Du-weißt-schon-wer" genannt, hat bei seinem Versuch, Harry mit einem Fluch zu ermorden, einen Teil seiner Seele auf ihn übertragen.

Der Wunsch danach, diese Geschichten um das Böse weiterzuspinnen, erinnert wiederum an die uralte mündliche Weitergabe von Mythen, in denen die Menschen versucht haben, das, was sie beschäftigt und verängstigt, zu fassen und zu bannen, indem sie es - erzählen. Wieder und wieder. Das würde auch erklären, wie Rowling zum furchtbar verzuckerten Ende von Band sieben gelangt ist, einer Szene, in der die nunmehr erwachsenen Protagonisten 19 Jahre später ihre Kinder zum ersten Schultag geleiten. Die Autorin musste ihrer Schöpfung mit der Erfindung einer Kitsch-Klammer Einhalt gebieten. Aber der Stoff mit seinen Schreckensmotiven spinnt sich fort, und er wird fortgesponnen.

Die englischsprachige Homepage "Hogwarts Realm" zum Beispiel hat ein virtuelles Potter-Universum ersonnen, das im Jahre 2027 angelegt ist, in dem viele der im Laufe der Romanreihen verstorbenen Personen noch leben und sich im Kampf behaupten müssen. Was auch immer die Fans aus dem Harry Potter-Club in Band acht sich ausgedacht haben mögen - der Kampf gegen das Böse wird weitergehen.

"Einzigartiges Online-Leseerlebnis"

Und auch Rowling überlässt ihre Helden, nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen, noch nicht ganz sich selbst: Auf der offiziellen Internetseite pottermore.com verspricht die Autorin in einer Videobotschaft an ihre Fans für den Herbst "ein einzigartiges Online-Leseerlebnis", E-Books werden online gestellt und weitere Hintergründe erläutert.

Die Autorin wendet sich in ihrem Grußwort ausdrücklich an die Leserschaft im Internetzeitalter, aber die Bilder zu den Worten inszenieren virtuos das Ursprungsmedium Harry Potters, das gedruckte und gebundene, in sich abgeschlossene Buch, aus dessen aufgeblät-terten Seiten die Papiergitter aufpoppen, Papierspinnen herauswachsen, Papierbäume und Zwerge mit Hüten herauswachsen. Ein "magisches Buch" also wie in Michael Endes "Unendlicher Geschichte". Die Leser werden hineingezogen in die Weiten des Internets, wo sie ihre eigenen Geschichten kreieren und in ihnen umhergehen. Aber das ist eine andere Geschichte und sie wird im Oktober erzählt werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: