Die ewige Suche nach Shangri-La:Das bessere China

Last des übermächtigen Mythos: Tibet war in den Augen Europas schon immer das bessere China - weil der Westen auf der Suche nach Erlösung die Wurzeln der Spiritualität in Tibet vermutete.

Andrian Kreye

Tibet ist ein heikles Thema. Das erfährt in diesen Tagen jeder Politiker, der sich mit dem Gedanken trägt, den Dalai Lama zu empfangen. Denn die Chinesen sind ein noch viel heikleres Thema. Vor allem, wenn es um die Chinesen geht und nicht um die Volksrepublik. Im Volksmund sind es ja "die Chinesen", die das Land Tibet besetzen. Das setzt schon mal eine volksimmanente Boshaftigkeit voraus. Deswegen sollte man bei der Tibetfrage auch zuerst einmal auf ebenjene Chinesen schauen. Die genießen in Europa immer noch das zweifelhafte Privileg, als völkische Einheit eine wunderbare Zielscheibe für Spott und Häme abzugeben - wenn sie nicht ausnahmsweise als Opfer einer Naturkatastrophe eine Zeitlang Immunität genießen.

Man kann das Kinderlied zitieren. Das kennt jeder: "Drei Chinesen mit dem Kontrabass, sitzen auf der Straße und erzählen sich was." Das ist per se noch unverdächtig, würde zum Absingen der Silbenspiele nicht auch das Langziehen der Augenlider gehören. Da schließen sich dann nahtlos die Herren Wang und Li an, die beiden sprachlich schwer überforderten chinesischen Kellner, die bei Harald Schmidt lange Zeit die Pausenclowns spielten.

Die Wurzeln für die Legitimierung antichinesischer Ressentiments liegen tief in der europäischen Geschichte begraben. Sie beginnen mit den Berichten Marco Polos, der nach seiner ersten Chinareise Ende des 13. Jahrhunderts über die zierlichen Chinesinnen, die weiße Haut dieser Menschen, ihre Ordnung und ihre hohe Kultur ins Schwärmen geriet. Hier endlich schien Europa seinen fernen, vervollkommnenden Widerpart gefunden zu haben, eine Hochkultur, der nur der wahre Glaube fehlte. Doch da begann der Bruch zwischen dem Westen und dem Osten, der sich bis heute durch die Geschichte zieht.

Die Verklärung als Vorurteil

Es waren zunächst die Jesuiten, die versuchten, das Chinesenvolk zu bekehren. Den Konfuzianismus deuteten sie ganz einfach als säkularen Ritus, was ihre Mission erheblich erleichterte. Das ging so lange gut, bis der Vatikan einschritt und der sanften Bekehrung nach dem Ritenstreit ein Ende bereitete. Da wandelte sich auch das Bild von den kultivierten Chinesen. So schrieb Johann Gottfried Herder gegen Ende des 18. Jahrhunderts: "Sinesen waren und bleiben sie; ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen Nase, platter Stirn, wenig Bart, großen Ohren und einem dicken Bauch von der Natur begabet." Das Bild vom Chinesen voller Heimtücke, Verschlagenheit und Grausamkeit war geboren. Ein Bild, das sich bis heute hält.

Doch der Westen ruhte nicht. Wenn es schon keinen vervollkommnenden Widerpart im Osten gab, so vermutete man in den Gebirgszügen des Himalaya eine bessere Welt, ja ein besseres China. Schon bald erstarrte Tibet zum Traumbild einer spirituellen Hochkultur, die frei war von den Sünden des Westens und dem Rest der Welt. Tibet, das war von nun an ein Utopia der Erleuchtung, das der Schriftsteller James Hilton in seinem Roman "Der verlorene Horizont" zum Shangri-La verklärte. Es war das kostbare, unbefleckte Kleinod der Weltgeschichte, das es zu schützen galt. Vor den Chinesen, den Engländern und dann wieder vor den Chinesen.

Ein Haufen Wilder

Der indische Politologe Dibyesh Anand hat in seinem Aufsatz "The Case of Exotica Tibet" (New Political Science 29/1, 2007) ein Bild für das schwierige Verhältnis zwischen dem Westen und Tibet gefunden. Als Edmund Hillary und Tenzing Norgay am 29. Mai 1953 den Gipfel des Mount Everest erreichten, kniete sich Norgay auf den Boden, vergrub eine Opfergabe für die Götter und huldigte dem Berg in einem Gebet: "Ich bin dankbar, Chomolungma." Hillary machte ein paar Fotos, pinkelte auf den Gipfel und brüstete sich später vor seinem Bergsteigerkollegen George Lowe: "Na, da haben wir's dem Miststück aber gezeigt."

Auf der nächsten Seite: Wie der Westen das Bild Tibets verklärt, um selbst Erlösung zu finden.

Das bessere China

Der Kontext eines ewigen Kulturkampfes zwischen den erleuchteten Tibetern und den aggressiven Eindringlingen ist laut Anand die Wurzel für eine verzerrte Sicht auf das mythische Land. Es gibt ja auch die Kehrseite. Da beschrieb der britische Colonel Francis Younghusband, der 1903 eine Expedition in den Himalaya anführte, die Tibeter als "ausgekocht, unmoralisch, religionsfanatisch, dreckig und faul".

Das kommunistische China übernahm solchen anti-tibetanischen Rassismus dann später wortwörtlich. Solche Reflexe sind erklärbar: Die Verunglimpfung eines Volkes als Haufen Wilder war und ist das Grundmuster des paternalistischen Kolonialgedankens. Nur der Eindringling kann die Eingeborenen von ihrem Zustand naturgegebener Verwahrlosung erlösen, sei es mit Bibel, Technik oder dem Kommunismus.

Von Faszination zu Obsession

Im mythifizierten Shangri-La der Quasi-Heiligen und der friedfertigen Erleuchtung suchte der Westen jedoch die Erlösung von seinen Sünden. Und mit der radikalen Säkularisierung der westlichen Kulturen wandelte sich die Faszination langsam zur Obsession, wie der Schweizer Anthropologe Martin Brauen in seiner Studie "Traumwelt Tibet" (2000) beschreibt.

Es waren die Theosophen um die russische Vordenkerin der Esoterik Helena Blavatsky, die in Tibet Ursprünge der Spiritualität vermuteten. Die geheimen Lehren des tibetanischen Buddhismus waren für das verwirrende Glaubenskonstrukt der Esoteriker eine wahre Fundgrube für deutbares Material. Die rassistischen Züge der Theosophie - die davon ausgeht, dass sich Lebewesen aus den Niederungen der Tierwelt über mehrere rassische Stufen bis zum vollkommenen Übermenschen entwickeln können - flossen später in die kultischen Strömungen des Nationalsozialismus ein.

Legendär sind bis heute die Tibet-Expeditionen der Nazis, die der SS-Offizier Ernst Schäfer 1931 und 1934 unternahm. Heinrich Himmler beschäftigte sich intensiv mit fernöstlichen Lehren. In seiner 1935 gegründeten Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe ließ er nach vermeintlichen Wurzeln der arischen Herrenrasse forschen. Die vermuteten die Nazis in den Bergen von Tibet.

Immer wieder suchten okkulte Bewegungen im 20. Jahrhundert in Tibet nach Wahrheiten und Einsichten. Fast jeder, der mit neuen Glaubensrichtungen Geld verdiente, rühmte sich damit, in Tibet gewesen zu sein, seien es der Satanist Aleister Crowley oder der Begründer der Scientology L. Ron Hubbard. Für die Esoterikszene gilt Tibet heute noch als eine Art Mekka. In der ewigen Sinnsuche von Hollywood hat der Mythos geradezu monumentale Dimensionen angenommen. Die Liste der prominenten Tibetfans ist lang - von Richard Gere über Brad Pitt, von Martin Scorsese bis zu den Beastie Boys.

Infantilisierung und Erotisierung

Im modernen Westen sind es vor allem die Schuldgefühle und der latente Selbsthass einer hochtechnisierten Konsumgesellschaft, die in der Ruhe der abgeschiedenen Bergklöster einen Urzustand spiritueller Unschuld und eine tiefere Weisheit vermutet. Da aber finden sich so ziemlich alle Elemente der Essentialisierung wieder, jenes prinzipiell herrenmenschlichen Blicks, mit dem ein Volk als monolithische Einheit betrachtet wird.

Das funktioniert in beide Richtungen - in der Dämonisierung der Chinesen wie in der Verklärung der Tibeter. Hetze und Verklärung funktionieren nach ähnlichen rhetorischen Mustern. Die Verklärung aber, die Xenophilie, wird von den Verklärenden nicht als Vorurteil empfunden: Bewunderung, Fürsorge, Verehrung sind schließlich Tugenden.

Doch Dibyesh Anand findet im westlichen Blick auf Tibet einen Musterfall der positiven Vorurteilsbildung. Da ist die Gerontisierung, die Darstellung einer Kultur, die aus ihrer langen Geschichte und tiefen Tradition eine Altersweisheit entwickelt hat. Da ist die Infantilisierung, die Unterstellung einer kindlichen Unschuld, die gepaart mit dem naiven Urvertrauen des friedlichen Naturvolkes direkt in die Opferrolle führt. Da ist die Erotisierung eines Volkes, in dessen Schönheit, Anmut und Grazie eine feminisierte Anziehungskraft liegt, die das Volk und das Land zum devoten Objekt der maskulinen Eindringlinge macht.

Das Problem der Essentialisierung liegt in ihrem paternalistischen Kern. Niemand kann es dem Dalai Lama vorwerfen, wenn er diese Reflexe der Weltöffentlichkeit für sich und sein Volk nutzt. Viel zu selten wird sich die Außenwelt klar, dass der tibetische Befreiungskampf eine ganz reale Angelegenheit und die Unterdrückung der tibetischen Minderheit im rassistischen Vielvölkerstadt China ein brutaler Dauerzustand sind. Ein bewaffneter Aufstand wäre aussichtslos. Den Westen aber dazu zu bringen, sein Shangri-La zu schützen, ist ein realistischer Weg.

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