Der Oscar-Favorit:Doch nur ein Armutsporno?

Erst sollte er gar nicht erscheinen, jetzt ist er trotz mutloser Produzenten und Protesten aus Mumbai der Oscar-Favorit. Was steckt hinter der märchenhaften Story des Films "Slumdog Millionär"?

Roland Huschke

Aus Aberglauben sagte er es damals keiner Menschenseele. Doch der Regisseur Danny Boyle weiß noch genau, wann ihn das Gefühl beschlich, sein neuer Film könnte weltweit Furore machen. Es war in einem schmalen, langen Kinosaal in Hatfield im Nordon Londons, als er einem Testpublikum erstmals eine Rohfassung seines "Slumdog Millionär" zeigte. Nervöse Phase: ein Film mit komplizierter Erzählstruktur, Dialogen in Hindi, ohne ein populäres Gesicht auf der Leinwand - und dann lärmten auch noch Vorstadt-Krawallkids in der ersten Reihe. Als die jedoch nach fünfzehn Minuten in gebanntes Schweigen verfallen waren, atmete Boyle auf: "In dem Moment dachte ich, dass unser Film vielleicht funktionieren könnte."

Der Oscar-Favorit: Erst sollte er nur auf DVD veröffentlicht werden. Mittlerweile hat "Slumdog Millionär" das Zehnfache seines Budgets eingespielt.

Erst sollte er nur auf DVD veröffentlicht werden. Mittlerweile hat "Slumdog Millionär" das Zehnfache seines Budgets eingespielt.

(Foto: Foto: dpa)

Um es milde zu formulieren. "Slumdog Millionär" befindet sich längst auf einem globalen Siegeszug. Vom Publikumspreis bei der Weltpremiere in Toronto über den Golden Globe bis zu den britischen Bafta-Awards hat er bereits dutzendweise Preise eingesammelt. Mit zehn Nominierungen geht er ins Oscar-Rennen am Wochenende - nach allen Prognosen als Favorit. Obwohl er in vielen Ländern noch gar nicht gestartet ist, hat er zudem schon das Zehnfache seines Budgets wieder eingespielt.

Ganz wie die Geschichte des Slumjungen, der bei der Suche nach der Liebe seines Lebens auf dem Stuhl der indischen "Wer wird Millionär?"-Show landet, trägt auch die Produktionsgeschichte des Films viele Züge des Märchenhaften - mit dem Studio Warner Brothers in der Rolle der bösen Schwiegermutter. Das Kunstfilmlabel Warner Independent hatte "Slumdog Millionär" mitfinanziert und sollte ihn in die amerikanischen Kinos bringen - nur dummerweise beschloss der Mutterkonzern zur gleichen Zeit, dass die Zukunft ausschließlich bei Massenware liege, sperrte die Independent-Abteilung zu und eröffnete dem verdutzten Team, dass ihr Werk allenfalls noch auf DVD erscheinen werde.

Fast auf DVD verramscht

"Es war niederschmetternd", erinnert sich der Drehbuchautor Simon Beaufoy, der mit dem Stripperfilm "Ganz oder gar nicht" schon einmal einen Welterfolg, wenn auch ganz anderer Art, geschaffen hat - und bei den Verhandlungen dabei war. "Wir wussten, dass wir eine Chance am europäischen Markt hatten, doch als uns Amerika genommen wurde, sahen wir uns am Tiefpunkt unserer Karrieren." Dergestalt verwaist ging der Film zum Festival Toronto, gewann den Publikumspreis und fand in Fox Searchlight einen neuen US-Vertrieb. Warner behielt einen Profitanteil.

Als sie kurz vor Weihnachten in London von dieser Odyssee berichten, hat sich das Glück längst gewendet - Beaufoy und Boyle ist ein gewisses Gefühl der Überwältigung anzumerken. Die nächsten Wochen sind gepflastert mit Terminen der Awards Season, frisch im Hinterkopf sitzt noch die Erinnerung an die Terrorattacken in Mumbai. Auch der dortige Hauptbahnhof, im Film Kulisse für ein rauschendes Happyend, wurde angegriffen, doch so weit Boyle weiß, ist aus seiner Crew niemand zu Schaden gekommen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Danny Boyle in Mumbai Gelassenheit lernte.

Doch nur ein Armutsporno?

An sich ist der Mann ja Ärger gewohnt - auf jeden Erfolg wie "Trainspotting" oder "28 Days Later" kam ein interessant gescheitertes Projekt wie "The Beach" oder "Sunshine". "Meine indischen Freunde", sagt er, "erzählen mir natürlich, dass alles Schicksal ist und der Oscar vorherbestimmt sei. Dabei bin ich schon froh, dass der Film jetzt die Chance hat, Zuschauer zu finden. Ich denke, die Amerikaner mögen ihn wegen des Rocky-Themas, der Underdog als Held. Aber ganz gleich, wohin der Weg noch führt - ich habe aus Indien Gelassenheit mitgebracht. Selbst als Warner uns über die Klinge springen ließ, wurde ich weder suizidal noch mordlustig wie sonst in solchen Fällen. Seit Mumbai kann mich nichts mehr erschüttern."

Der "Apocalypse-Now-Ansatz"

Die indische Dreizehn-Millionen-Metropole ist Schauplatz des Romans "Q&A" von Vikas Swarup, dessen Fahnen der Autor Beaufoy vor vier Jahren mit der Aufforderung erhielt, einen Film daraus zu machen. Eine reizvolle Aufgabe: "Q&A" lässt einen Quizshow-Kandidaten mit jeder Antwort anekdotisch auf sein Leben zurückschauen, eine raffinierte Struktur, der indes noch etwas fehlte. Beaufoy reiste mehrfach nach Mumbai, folgte seinem Instinkt als ausgebildeter Dokumentarfilmer und fand "Slumdog Millionär" förmlich vor seinen Füßen. Ein Prozess gegen lokale Gangster beflügelte die Unterwelt-Elementen des Buches. "Ich mochte den Gameshow-Gedanken, doch ich wollte keinen Film über das Gewinnen von Geld. Als ich wochenlang durch die Slums lief, wurde mir schnell klar, dass die Liebe unser Thema sein musste. Als Referenz zur Kinokultur des Landes, wo die Liebe hemmungslos romantisch und nie etwas anderes als das Große, Positive, Wundervolle ist! Und als direkte Reaktion auf die Einflüsse Mumbais. Man wird dort von so viel Leidenschaft und Energie angesteckt."

Leonardo DiCaprio, mit dem er "The Beach" drehte, hat Danny Boyles Inszenierungsstil einmal als den "Apocalypse-Now-Ansatz" bezeichnet. Was man sich darunter vorzustellen hat, illustrieren Details des "Slumdog"-Drehs. Mit dem Prototyp einer Digitalkamera auf dem Rücken, die nur durch Trockeneis gekühlt werden konnte, verzichtete Boyle auf Ateliers und Storyboard, ließ den "britischen Realismus" hinter sich und stürzte sich in die Straßen Mumbais.

Hindi statt Englisch

An manchen Tagen befand sich plötzlich eine frisch gezogene Wand, wo gestern noch sein Set war. Ein anders Mal beschloss Boyle entgegen der Anweisungen seiner Finanziers spontan, seine Laiendarsteller in Hindi sprechen zu lassen, statt durch mangelndes Englisch die Authentizität zu gefährden. "Das Bollywood-Kino geht nie in die Slums", sagt er, "sondern baut dafür Bühnen. Dabei bekommt man so viel Geruch, Geschmack und Textur, wenn man draußen dreht - das kann der beste Art Director der Welt nicht reproduzieren. Alles hängt mit allem zusammen und der Verlust an Kontrolle wird durch die Dynamik der Stadt wettgemacht, der man nicht gerecht würde, wenn man neben einer Tanzeinlage nicht auch die Folter eines Kindes zeigt. Diese Dinge koexistieren in Mumbai an jeder Straßenecke."

Genau dieser Realismus hat dem Film inzwischen allerdings auch Angriffe eingebracht. Nach der Premiere in Indien gab es scharfe Debatten der Elite, welches Indienbild hier eigentlich gezeigt werde, und ebenso Proteste von Slum-Bewohnern, die ihre Lebensumstände nicht mit dem nötigen Respekt gezeigt wähnten und mit Schildern wie "Wir sind keine Slumhunde" durch die Straßen zogen. Dann wiederum wurde die angemessene Bezahlung der Kinderdarsteller angezweifelt, was die Produktion schnell zu entkräften wusste. Und irgendwann hielt dann auch der böse Begriff "Poverty Porn" Einzug in die Diskussion, der auf die angeblich sensationslüsterne Ausbeutung von Armutsbildern zielt.

Der Oscar ist Schicksal

Doch "Slumdog Millionär" als diesjähriges Darling der Oscar-Academy ist scheinbar durch keinen Gegenwind zu stoppen - alle medialen Angriffe wurden konkurrierenden Produzenten zugeschrieben und umgehend abgehakt. Zu sehr liebt Hollywood diesen Film und seine Erfolgsgeschichte; zu unwiderstehlich wäre die Symbolwirkung der Entscheidung für den Optimismus trotz widrigster Umstände, den Boyles Helden verkörpern. Wichtige Oscars sind "Slumdog Millionär" kaum noch zu nehmen - da sind sich alle Auguren einig. Schicksal, vermutlich.

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