Christian Kracht: Neuer Roman:Es roch nach Menschentalg

"Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten": Christian Kracht liefert in seinem neuen Roman Atmosphäre pur - und das im schönsten Deutsch, das derzeit zu lesen ist.

Gustav Seibt

Was für ein Beginn! Die ersten Sätze von Christian Krachts neuem Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" üben eine magische Wirkung aus, die man in der vielgefeierten jungen deutschen Literatur sonst nicht erfährt. Hier muss man sich nicht einlesen, durch mühselig-langwierige Beschreibungen quälen oder trivialen Dialogketten irgendwelche Basisinformationen abnotieren.

Christian Kracht: Neuer Roman: "Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten", so der Titel des neuen Romans von Schriftsteller Christian Kracht.

"Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten", so der Titel des neuen Romans von Schriftsteller Christian Kracht.

(Foto: Foto: ddp)

Krachts Roman beginnt ganz leichtfüßig und ganz fremd, und mit ein paar Griffen ins Sprachklavier ist der Klang einer Welt geschaffen: "Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer, es war die ganze Nacht still. Der Hund schlief auf dem steinernen Fußboden, und ich hörte seinen unregelmäßigen Atem. Er zuckte mit dem Pfoten, manchmal träumte ihm wohl. Ich lag im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig und das Kissen roch nach Menschentalg, so konnte ich nicht schlafen."

Was ist das? Der Krieg und ein Moment der Stille, Nacht und Erschöpfung rufen eine Situation geschichtlicher Härte herauf. Zugleich kommt etwas Organisches ins Spiel, die störenden Parasiten, der Menschengeruch; und dieses Organische zeigt mehr als das große Wort "Krieg" den Widerhall des Schreckens: Menschentalg, das riecht nach Kaserne, Lager, Massenmord. Mehr braucht Kracht dafür nicht: So wie Georges Simenon mit dem Hinweis auf Sauerkrautgeruch ein ganzes Milieu charakterisieren kann, so genügt diesem Virtuosen ein kleiner Akkord von Eindrücken - grauwollenes Nachthemd, Flöhe, Menschengeruch -, um alles heraufzurufen, was wir von den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts im Kopf haben.

Solche kammermusikalischen Epiphanien finden sich in dem kurzen, leichtfüßigen und verrückten Buch auf jeder Seite. Wenn es noch irgendjemanden gibt, der Literatur um des Stils und nicht um der Information willen liest, aus purer Freude an der Wirkung von Sätzen, Rhythmen und Adjektiven, hier findet er seinen Text. Plump und zolaisierend überausführlich wirkt im Vergleich dazu das Gros von Krachts Generationsgenossen, überdeutlich oder, oft noch quälender, literaturinstitutshaft geschliffen. "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" ist kein deutscher Gegenwartsroman.

Er ist es auch in einem ganz stofflichen Sinn nicht. So wie Kinder gern Seiten aus dem Schulatlas reißen und sich damit eine neue Weltkarte zusammenkleben, so hat Kracht sich einen fiktiven geschichtlichen Kosmos zusammengebastelt, der, nähme man ihn ernst, gegen Ende des Ersten Weltkriegs von der uns bekannten Historie abgezweigt sein müsste.

Lenin ging nicht nach Russland, sondern begründete im Schweizer Exil seinen totalitären Sowjetstaat; dieser befindet sich seither im Krieg mit einer Umwelt, deren Atlasfetzen sich ungefähr so zusammensetzen: Im Norden droht ein deutsch-englisches Faschistenbündnis (die Front verläuft zwischen Straßburg und Heidelberg), im Süden der italienische Faschismus. Im Osten, jenseits von "Schweizerisch-Salzburg", verlaufen die Grenzen eines Koreanisch-Minsker Reiches, während weiter im Norden Russland nach Chemieangriffen versteppt ist.

Aus Asien dräut ein "Hindustanisches Reich", dahinter liegt das "Großaustralische" Imperium im pazifischen Raum. In Amerika schotten sich die "Amexikaner" in ihrem Großraum ab, als herrsche Carl Schmitts Nomos der Erde. Afrika aber zerfällt in drei Machtzonen: faschistisch-britisch im Norden, im Süden burisch, in der Mitte aber sozialistisch-schweizerisch, als Kolonie, Musterprovinz und Soldatenreserve der leninistischen Schweizer Sowjetrepublik SSR.

Lustvoll Sätze produzieren

Es ist nicht ganz fair, dies so trocken zusammenzustellen, weil es einen Eindruck von Albernheit verstärkt, den Krachts Roman zunächst nur dosiert und peu à peu auf den Leser loslässt, als allerdings permanent gegenwärtiges, giftiges Aroma. Die erzählerische Welt, die hier entworfen ist, zeigt einen halb bösartigen, halb parodistischen Bonsai-Totalitarismus, den wir mit Hitler-Puppen und Stalin-Retro auch aus der zeitgenössischen bildenden Kunst kennen.

Hier herrscht seit 96 Jahren Krieg, sodass selbst Greise sich an keinen Frieden mehr erinnern. Der ich-erzählende Held ist ein Politkommissar, der einen Verhaftungsbefehl auszuführen hat und dafür aus Bern ins Alpeninnere reisen muss, wo ein in die Berge geschlagenes Tunnelsystem das uneinnehmbare "Réduit" der SSR bildet. Die Handlung - mit beiläufig grausamen Morden und undeutlichen Motiven - ist nachlässig konstruiert und eher unwichtig. Krachts Buch ist ganz Atmosphäre - Winter, Kälte, Terror, Krieg - und Gelegenheit, um lustvoll Sätze zu produzieren, in denen vom "brüderlichen Ringen des Schweizer Sowjetmenschen um eine gerechte Welt, frei von Rassenhass und Ausbeutung" die Rede ist.

Das Réduit erweist sich als rostig-labyrinthische Unterwelt, die an die Schauplätze von Trash-Filmen erinnert, die aus Kostengründen in stillgelegten Wasserwerken gedreht werden. In diese Sphäre weisen auch Steckdosen, die sich bei einzelnen Figuren am Körper zeigen, oder der Umstand, dass das Herz des Politkommissars nicht links, sondern rechts im Leibe steckt.

Lesen Sie auf Seite Zwei, welche Information der Autor kunstvoll verzögert.

Es roch nach Menschentalg

An den Wänden dieses Felshöhlensystems sind im Stil des sozialistischen Realismus Szenen der Schweizer Geschichte vom Rütlischwur bis zur sowjetischen Gegenwart eingelassen, Bilder, die sich allerdings stilistisch immer mehr den abstrakten Höhlenmalereien der afrikanischen Kolonien der SSR annähern. Damit ist eine der kulturellen Koordinaten benannt, die Kracht seinem Bastelkosmos eingefügt hat.

Die andere betrifft die Sprache: Im Raum der SSR gibt es keine Schrift mehr. Leser des alten "Bibelbuches" erscheinen als im Wald lebende Werwölfe. Der vom Kommissar gejagte Oberst hat die Kunst des "räumlichen Sprechens" entwickelt, also eine Rede ohne Worte, die ihren Sinn wie Dinge emaniert und in den Raum stellt. Hier ist der größte Abstand zu unserer Welt mit ihren indirekten, ortlos allgegenwärtigen, schriftbasierten Kommunikationsformen markiert. Ein vergangenes eisernes Zeitalter kennt keine Abstraktionen.

Unfairerweise muss auch mit einer letzten Information herausgerückt werden, die Kracht kunstvoll verzögert: Sein Ich-Erzähler, der Schweizer sowjetische Politkommissar, ist ein Schwarzer - rekrutiert aus den zentralafrikanischen Gebieten, wo die SSR ihr Leni-Riefenstahl-schönes, von goldenen Sonnenuntergängen überglänztes und mit weisen Sehern bevölkertes Mustergebiet am Fuße des Kilimandscharo unterhält. Und so haben wir das folgende bedeutende Bild: Ein schwarzer Kommissar in Schweizer Uniform führt einen Brecht'schen "Auftrag" in einer unterirdischen Alpenfestung - am Ende doch nicht aus; unterwegs hat er eine frostige Affäre mit einer Kollegin. Gelegentlich werden Feinde umgelegt und Augen ausgestochen. Und all das im schönsten, elegantesten Deutsch, das derzeit zu lesen ist.

Spuren des Ekels

Christian Kracht, dem mit "Faserland" vor zwölf Jahren ein beeindruckendes Bild deutscher Wohlstandsverwahrlosung gelungen ist, der pünktlich zum 11. September 2001 mit "1979" ein Schlüsseldatum der fundamentalistischen Gegengeschichte der Moderne aufgriff und der seither in Reisebüchern mit dem nordkoreanischen Revolutionspop kokettierte, hat sich nun weiter in die längst abgeräumten Schreckenskulissen des 20. Jahrhunderts zurückgeträumt. Sein gleichmütig grausames, allegorisch unterfüttertes Erzählen erinnert von Ferne an Werke der faschistischen Epoche wie Dino Buzzatis "Tatarenwüste" oder Ernst Jüngers "Marmorklippen"; aber es ist doch vor allem höhnischer Nippes.

Zu solchen Modellen verhält sich Krachts Roman ungefähr so wie die Malerei von Neo Rauch zu De Chirico, Magritte und der sozialistischen Propagandakunst: Stil und Mittel haben sich schwebend verselbständigt, das Set der Bilder ist übervoll mit Stimmung, Anspielungen und Motiven. Der Grad des gedanklichen Durcheinanders aber ist kaum zu übertreffen.

Und man fragt sich, ob die diskreten, auch hier unübersehbaren Spuren des Ekels, die alle Romane Krachts durchziehen - der Geruch von Menschentalg -, nicht das konstanteste Motiv seiner Kunst darstellen. Traurigerweise ist es das stärkste Gegengewicht zu dem am Ende ganz beherrschenden Eindruck des Albernen, der von diesem höchstbegabten und fast toxisch trostlosen Buch zurückbleibt.

CHRISTIAN KRACHT: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 150 Seiten, 16,95 Euro.

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