Cartier-Bresson-Ausstellung:"Fotografie, das ist nichts"

Henri Cartier-Bresson gehört den größten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Rastlos reiste er seit den 1930er Jahren durch Länder und über Kontinente - mit seiner Leica immer auf der Suche nach dem Leben der einfachen Menschen. Eine Ausstellung in Wolfsburg zeigt das Lebenswerk des Fotografen, der die Kamera stets nur als Mittel zum Zweck ansah.

Till Briegleb

Berühmte Personen, denen das Aufheben um ihre Person unangenehm ist, sagen gerne Dinge über sich, die ganz offenkundig falsch sind. "Fotografie, das ist nichts", sagte Henri Cartier-Bresson zum Beispiel einmal: "Was mich einzig interessiert, ist das Leben." Das hört sich natürlich zunächst so bescheiden wie pulsierend an, kommt als Aussage eines der größten Fotografen des 20. Jahrhunderts aber trotzdem daher wie ein Rennfahrer, der behauptet, er habe keinen Führerschein.

Cartier-Bresson-Ausstellung: Sowjetunion, Armenien. Besucher eines Dorfs am Sewansee, 1972.

Sowjetunion, Armenien. Besucher eines Dorfs am Sewansee, 1972.

(Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum)

Obwohl jeder meint, zu verstehen, was Cartier-Bresson damit sagen wollte - man muss sich nur an seine weltberühmten Schnappschüsse von Menschen in bezaubernden und historischen Momenten erinnern -, ist es doch das Können des Fotografen, das dieses Leben bannt. Das Genie des Augenblicks wird erst durch seinen Eingriff zur Form.

Dass Cartier-Bresson den Eindruck zu erwecken versuchte, er täte nichts anderes, als "im Bauschutt des Zufalls zu wühlen", habe also selbst den kleinsten Anteil an seinen Motiven, ehrte ihn natürlich in einer Zeit des eitlen Geschreis. Eine Ausstellung wie "Die Geometrie des Augenblicks - Landschaften", die aktuell im Kunstmuseum Wolfsburg gezeigt wird, beweist trotzdem das Gegenteil. Sie zeugt nämlich vor allem von Kompositionswillen.

In seinem rastlosen Reisen durch Länder und über Kontinente seit den dreißiger Jahren hat Cartier-Bresson nicht nur Menschen, die über Pfützen springen, triumphierende Kinder mit Weinflaschen, berühmte Zeitgenossen und Liebespaare bei allen Gelegenheiten fotografiert, sondern die Kamera im Geiste konstruktivistischer Fotografie als Werkzeug zur Abstraktion benützt. Erdformationen und Schatten, Fischernetze und Boote, tiefstehende Sonne, Nebel, Winterlandschaften und Grachten hat er gleichermaßen benutzt, um die Welt als grafische Struktur erscheinen zu lassen.

Der Mensch setzt den Maßstab

Anders als die Versuche der europäischen Revolutionskünstler sind die abstrakten Kompositionen Cartier-Bressons aber darum bemüht, nicht als demonstrativ aufzufallen. Eine Gondelspitze, die auf eine Brücke in Torcello bei Venedig zuragt, schafft zusammen mit den Ufern des Kanals und einem viereckigen Kirchturm zwar eine Dominanz der Geometrie, dabei bleibt das Motiv aber alltäglich und konkret. Und ein Mädchen, das über die Brücke rennt, sorgt für jene Verankerung im Persönlichen, die fast keiner von Cartier-Bressons Rationalisierungen der Landschaft fehlt.

Ob er Tücher auf dem Strand in Indien, eine Dschunken-Armada in Shanghai oder die Aufsicht auf einen verschatteten Platz in Siena in den Ausschnitt seiner Leica setzte, der menschliche Maßstab war immer Teil des Bildes. Nicht als Zentrum der Aufmerksamkeit, wie in seinen genialen Momentaufnahmen von Passanten und seinen unsterblichen Porträts, aber als Identifikationsfiguren eines Blicks, der die Natur nicht ohne den Menschen denken will.

Da sitzen Angler über Eislöchern in der verschneiten Weite des russischen Winters, Hirten lehnen schwatzend an einem Wall des schottischen Hochlands, Reisbauern in Sumatra stehen wie Skulpturen in den Terrassenlandschaften, und drei Kinder eilen vorbei an vernebelten Wohnhaus-Ruinen im Liverpool der Sechziger. Manchmal übernehmen auch Tiere die Rolle des lebendigen Darstellers, wie ein paar neugierige Schweine in der streng strukturierten Nutzlandschaft von Gouda.

Bilder einer vergangenen Ära

In den rund 100 Motiven, die Cartier-Bresson vor seinem Tod 2004 noch selbst aus 40 Jahren höchster Produktivität zusammengestellt hatte, dominiert ein einfaches Leben, wie es durch die Industrialisierung der Landwirtschaft mittlerweile fast ausgestorben ist. Schiffer und Fischer, Baumwollpflücker und Brotfrauen, Tagelöhner und Straßenkinder verorten die Kompositionen in der Geschichte und sorgen für eine stark romantische Note, die durch die Schwarz-Weiß-Fotografie, auf die Cartier-Bresson sein Leben lang konsequent vertraute, noch verstärkt wird.

Cartier-Bresson-Ausstellung: Frankreich, Brie. 1968.

Frankreich, Brie. 1968.

(Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum)

Obwohl sie am Rand Armut und Lebenskampf zeigen, sind diese Studien nie anklagend, sondern eher heiter. Der Reportage-Fotograf, der die Fotoagentur Magnum mit begründete, zeigt auch in seinen Meditationen über Form und Struktur jenen sentimentalen Zug, der seine Arbeit so beliebt und berühmt gemacht hat.

In kaum einer Zusammenstellung seiner so weidlich publizierten Arbeit ist das Echo von Cartier-Bressons Begeisterung für den Zen-Buddhismus mehr spürbar, als in dieser Kollektion ruhiger Bildorganisationen. Seine berühmte "Schnelligkeit", die Cartier-Bresson selbst in der Parole "Sehen, zielen, auslösen und verduften" auf den Punkt brachte, und die ihn dazu brachte, Menschen zu knipsen, bevor er ihnen "Guten Tag" sagte, mag auch für diese Bilder die Erfolgsgarantie gewesen sein. Ihren Charakter hat diese Eile aber nicht berührt.

Die meisten seiner "Landschaften" sind still in einer Form, die an Meditation und Loslassen erinnert, nicht an scharfe Konzentration auf den entscheidenden Moment der Bildschöpfung. Selbst dort, wo Dynamik unleugbarer Teil des Fotos ist, etwa bei dem berühmten Bild des Armeniers, der am Ufer des Sewansees ein lachendes Kind auf der ausgestreckten Faust zu balancieren scheint, besitzt die Stimmung eine Atmosphäre tiefer Gelassenheit.

Kein gestresster Schnappschuss-Fotograf

Ganz ohne Eitelkeit ging es aber natürlich auch bei Henri Cartier-Bresson nicht. Der feine schwarze Rand des Negativs, den er rund um seine Abzüge stehen ließ, sollte dem Betrachter unmissverständlich zeigen, dass der Fotograf bereits beim Auslösen den idealen Bildausschnitt gefunden hat. Diese Marotte ist allerdings ein vernachlässigbares Zeichen der Eigensucht gegenüber der diskreten Art des Fotografierens, die Cartier-Bresson betrieb. Seine Vermeidung jeder aggressiven Strategie, wie sie heutige "Schnappschuss"-Fotografen so unangenehm macht, ermöglichte ihm die überraschende Selbstverständlichkeit im Ausdruck der von ihm "erwischten" Menschen.

In seinen Landschaften und Stadtaufnahmen, wo der Mensch meist nur eine Rolle als Statist erfüllt, zeigt sich diese Diskretion in dem Gespür für die Präsenz des Gewöhnlichen. Cartier-Bresson fotografiert nie die spektakuläre Ansicht von Lebensräumen. Er fand die Größe dort, wo andere achtlos vorübergehen.

Dass Cartier-Bresson 1972 mit dem professionellen Fotografieren aufhörte, um sich ganz der Malerei zu widmen, begleitete er mit einem weiteren dieser irrtümlichen Sätze, die Berühmtheiten auf der Flucht vor ihrem Werk manchmal sagen: "Alles, was ich heute liebe, ist die Malerei. Die Fotografie ist immer nur ein Annäherungsmittel gewesen." Denn wenn man die in Wolfsburg gezeigten Zeichnungen von Cartier-Bresson betrachtet und die fehlenden Meriten bedenkt, die diese Wendung "HCB" einbrachten, dann lässt sich auch diese Aussage nur in ihrem Gegenteil bejahen.

Die sehr gewöhnlichen Skizzen von Paris und aus dem Naturkundemuseum, die in der Ausstellung hängen, sind jedenfalls höchstens Annäherungen an Originalität. Seine Fotografien dagegen haben das Erinnern an das 20. Jahrhundert in einer Intensität geprägt, die noch sehr lange weiter wirken wird. Und von dieser Bedeutung her war das Leben des Henri Cartier-Bresson eindeutig die Fotografie.

"Henri Cartier-Bresson. Die Geometrie des Augenblicks" bis 13. Mai. Info. www.kunstmuseum-wolfsburg.de

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: