"45 Years" in der SZ-Cinemathek:Plötzlich ist der Raum voller Gespenster

Kinostart - 45 Years

Tom Courtenay (links) und Charlotte Rampling (rechts) haben für ihre Interpretationen in "45 Years" die Darstellerpreise des Filmfestes Berlinale bekommen.

(Foto: dpa)

Viele Filme über das Altwerden erzählen vom Tod. Dieser Film nicht. "45 Years" beschreibt das Leben - und berührt mit vielen kleinen Gesten.

Von Susan Vahabzadeh

Die Erinnerung ist gar kein feststehendes Ding, wir verändern sie, setzen neue Prioritäten, addieren und subtrahieren. Der englische Regisseur Andrew Haigh erzählt in seinem Film "45 Years" von einem Paar, das von einem Augenblick zum anderen die Vergangenheit neu zu sortieren beginnt. Und plötzlich ist der Raum voller Gespenster.

Geoff (Tom Courtenay) und Kate (Charlotte Rampling) bereiten die Feier vor für ihren 45. Hochzeitstag, alle Freunde sind eingeladen, Kinder haben sie nicht. Man sieht sie am Anfang des Films zu Hause, als ein Paar, das gern zusammen alt wird, zwei Menschen, die noch gern Zeit miteinander verbringen; sie sind vielleicht nicht reich, und sie haben vielleicht nicht alles erreicht, was sie sich einst erträumt haben, aber alles ist in Ordnung. Sie mögen sich, sie reden, sie haben sich in ihrem Leben gut eingerichtet. Und dann kommt ein Brief an, der alles verändert.

Der Brief holt Geoff in die Vergangenheit

Es ist ein Brief aus der Schweiz, von der Polizei - man hat dort in den Alpen die Leiche einer Frau gefunden, die ein halbes Jahrhundert zuvor abgestürzt ist und die man damals nicht bergen konnte, das Eis hat sie nun freigegeben. Geoff war bei dem Absturz dabei, er war damals mit ihr zusammen, Jahre bevor er Kate getroffen hat. Kate weiß wenig darüber, über dieses Unglück in den Bergen und die Beziehung, die Geoff zu der anderen hatte.

Erst ist sie interessiert, und Geoff überlegt, ob er der Aufforderung nachkommen soll, in die Schweiz zu fahren. Und dann beginnt man, in ihren Antworten einen Unterton zu hören, in ihren Augen ist plötzlich etwas anders. Die beiden waren gerade eben noch eine Festung, und nun bekommt sie Risse. Plötzlich ist der Raum voller Gespenster, steht in der Kurzgeschichte von David Constantine, auf der Haighs Drehbuch basiert.

"45 Years" in der SZ-Cinemathek: Kate führt eine gute Ehe, aber dann wird die Leiche einer Frau entdeckt, die ihr Mann einmal geliebt hat: Charlotte Rampling in "45 Years".

Kate führt eine gute Ehe, aber dann wird die Leiche einer Frau entdeckt, die ihr Mann einmal geliebt hat: Charlotte Rampling in "45 Years".

(Foto: Piffl)

"45 Years" berührt leise und mit kleinen Gesten

Es ist eine stimmungsvolle kleine Erzählung, ein stilles Drama, der melancholisch verhangene Himmel der Norfolk Broads gibt den Ton an, während Geoff und Kate ihr Kleinstadtleben weiterführen. Freunde treffen, den Saal für die Feier noch einmal anschauen, ihrem Alltag nachgehen wie die Provinz-Protagonisten in einem Chabrol-Krimi. Nur dass die Dinge, die hier passieren, die alles aus dem Lot bringen, ganz klein und unspektakulär sind. Einmal holt Kate ihren Mann von einer Feier ab in seiner früheren Firma, er hat getrunken; und sie nimmt das zur Kenntnis - nur nicht mehr liebevoll.

Andrew Haigh verfolgt eine britische Tradition, "45 Years" ist die Art von Kino, wie auch Mike Leigh sie macht seit dreißig Jahren - ganz leise emotional zu berühren kommt aber nicht aus der Mode. Die Spannung speist sich aus kleinen Gesten und winzigen Beobachtungen. Geoff sagt nicht einmal etwas Falsches - aber er ist plötzlich geistesabwesend, er beginnt, sich zu erinnern; und mit jeder Regung, die Kate an ihm wahrnimmt, rückt sie ein Stück weiter von ihm ab. Haigh und sein Kameramann Lol Crawley deuten das immer wieder im Bildausschnitt an, man sieht, wie die beiden noch reden, noch dieselben Räume bewohnen - einer von beiden aber ist oft jenseits der Leinwand, nur noch zu hören. Entrückt.

Die beiden Hauptdarsteller spielen minimalistisch und meisterlich

"45 Years" wurde auf der Berlinale uraufgeführt, Rampling und Courtenay haben dort die Darstellerpreise bekommen, und seit der Film in der vergangenen Woche beim Festival in Telluride lief, gelten sie auch als frühe Oscar-Kandidaten - zu Recht, denn wie die beiden spielen, ist wirklich außergewöhnlich minimalistisch und gerade deswegen meisterlich.

Was Kate so irritiert, wird nie ausgesprochen. Rampling muss spielen, was da sein könnte, diese Rivalität mit einer Toten, die Kate selbst so albern erscheint, dass sie mit ihrem Mann nicht darüber sprechen kann; die Furcht, dass diese Frau, vom Eis konserviert, immer noch jung ist, sich nicht verändert hat wie sie selbst; und wie sie dann zu glauben beginnt, Geoff hätte sich nicht für sie entschieden, wäre die andere noch da gewesen; die Furcht, die alternative Biografie, in der er mit der anderen Frau alt geworden wäre, hätte ihm ein erfüllteres Leben geboten. Ihr Lächeln wird immer angestrengter, sie schreckt physisch vor ihm zurück, mauert - das ist großartig; und beklemmend.

Es hat eine ganze Reihe von Filmen gegeben in den letzten Jahren, die vom Altwerden erzählen, Michael Hanekes "Amour" beispielsweise; aber fast immer handelten sie davon, dass kaum noch Zeit übrig ist: vom Tod. Hier geht es ums Leben. Kate und Geoff haben noch Zeit - aber sie stecken auf einmal in einer Situation fest, in der sie nicht mehr glücklich werden können. Es ist zu spät, von vorn anzufangen; und das, was sie verbindet, ist kaputtgegangen: Das Gestern ist ein Scherbenhaufen.

45 Years, GB 2015 - Regie und Buch: Andrew Haigh. Kamera: Lol Crawley. Mit: Charlotte Rampling, Tom Courtenay. Piffl Medien, 95 Minuten.

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