"1001 Nacht" im Kino:Scheherazade mitten in der Eurokrise

Film 1001 Nacht

Exotisches Mythenpersonal und gebeutelte Realitätsbewohner treffen in diesem sechsstündigen Filmexperiment aufeinander.

(Foto: Real Fiction)

Die wunderbare Filmtrilogie "1001 Nacht" beschreibt anhand traditioneller Sagen die heutige Euro-Krise in Portugal - als sei die Gegenwart bereits eine Überlieferung der Zukunft.

Filmkritik von Philipp Stadelmaier

Der afrikanische Magier erklärt: Es gibt für alles eine Lösung. Man nehme etwa an, dass eine Horde hartherziger Kredit- und Zinshändler sich entschlossen hat, ein hoch verschuldetes europäisches Land mit einer rigorosen Sparpolitik und unmöglichen Defizitzielen zu quälen. Warum tun sie das? Weil sie keinen Sex haben, erklärt der Medizinmann, und ihnen die Lebenslust verloren gegangen ist.

Wenn ihm also die mürrischen und impotenten Sultane der Troika auf einer Kamelkarawane entgegenkommen, merkt der Medizinmann schnell, was sie am meisten brauchen: eine ordentliche Erektion. Er verabreicht ihnen eine Mischung, die ihre Schwellkörper wieder funktionstüchtig macht, ihre Gemüter besänftigt und die Defizitziele lockert. Bis leider irgendwann klar wird, dass auch Magier und besserer Sex nicht alle Probleme lösen können.

Diese Sequenz aus dem ersten Teil der "1001 Nacht"-Trilogie erzählt viel über den portugiesischen Filmemacher Miguel Gomes, der in seinem eigenen Film auftaucht, sozusagen seine eigene Rolle spielt und sich laut Gedanken über seine Arbeit und sein Projekt macht.

Er weiß, erzählt er, dass Fiktionen und Fabulierkunst nicht die Probleme der Gegenwart lösen, in der er lebt und arbeitet. Er hätte gerne einfach nur wundervolle und verführerische Geschichten erzählt, wie die orientalischen Märchen aus "1001 Nacht". Und gleichzeitig spürte er, dass er Portugal heute nicht filmen kann, ohne nicht auch ein Land zu zeigen, das unter einer Austeritätspolitik ächzt, welche die Verarmung der portugiesischen Bevölkerung zur Folge hat.

"Die dümmste Idee meines Lebens"

Wie also noch eine Geschichte erzählen? In seinem letzten großartigen Film "Tabu" hatte Gomes die Kolonialvergangenheit Portugals mit einer Liebesgeschichte zusammengebracht. Die komplexe Realität der Wirtschaftskrise scheint da aber ein anderes Kaliber zu sein. Daraus eine Fiktion spinnen? "Die dümmste Idee meines Lebens", murmelt Gomes.

Am Anfang seines Films sitzt er verzweifelt an einem Tisch, während sein Team um ihn herumsteht und die nächste Szene vorbereitet. Er verkriecht sich immer mehr unter der Kapuze, bis er irgendwann aufsteht und flieht. Da es aber ohne Regisseur keinen Film geben kann, rast das Team hinterher, fängt ihn ein und steckt ihn in eine Sandgrube.

Das Verdikt der Crew ist gnadenlos: Der Dissident muss sterben. Mit seiner letzten Zigarette im Mundwinkel bietet der Mann aber einen Deal an: Er erzählt ihnen eine Geschichte, wenn sie ihn am Leben lassen.

Mit dieser ironischen Selbstdarstellung beginnt Miguel Gomes seine Version von "1001 Nacht". Ein sechsstündiger Film in drei Teilen, die nun nacheinander in die deutschen Kinos kommen: "Der Ruhelose" (seit 28. Juli), "Der Verzweifelte" (11. August) und "Der Entzückte" (25. August).

Gomes blendet dabei schon anfangs die Warnung ein, dass es sich hier keineswegs um eine Adaptation des persischen Märchenzyklus handelt und er sich lediglich bei dessen Struktur bediene. Die originalen Märchen erzählten die Geschichten der Scheherazade, die mit dem blutrünstigen König Shahryar verheiratet war. Der tötete jede seiner Ehefrauen nach der Hochzeitsnacht, und um ihr Leben zu retten, erzählte Scheherazade ihm eine Geschichte nach der anderen, Geschichten, die sich geschickt ineinander verzweigten.

Fragmente, die das poetische Mosaik eines Landes ergeben

Wenn sich Gomes nun in seinem Film als Scheherazade inszeniert, dann geht es dabei nicht um sein Leben, sondern um das Überleben seiner Kunst, des Kinos, im Portugal des frühen 21. Jahrhunderts.

Die Lösung besteht darin, dass Gomes die Geschichte von Scheherazade erzählt, die hier aber ebenso eine Figur des Mythos wie der Gegenwart ist: eine junge, fröhliche Portugiesin, die orientalische Kleider trägt und deren schöne schwarze Haare im Fahrtwind wehen, wenn sie mit einem modernen Motorboot an der Küste entlangrauscht, um an der Küste von orientalischen Jungfrauen in Holzbooten abgeholt zu werden.

Und diese Frau wird wiederum Geschichten aus Portugal erzählen. Geschichten, die Gomes während langen Recherchen gesammelt hat und nun mit einem märchenhaften Touch versieht. Wie in der Geschichte von den Troika-Administratoren, die auf Kamelen an der Küste entlangreiten, bis sie von besagtem Magier mit Erektionen behandelt werden.

Der Teppich aus Bildern und Geschichten, aus Realität und Fiktion, der auf diese Weise entsteht, ist spektakulär. Es geht weniger um eine ausgefeilte narrative Struktur, wie etwa in Pasolinis Version von "1001 Nacht", sondern um Fragmente, deren Verbund das ebenso konkrete wie poetische Mosaik eines ganzen Landes ergeben. Da ist etwa diese Verbindung zwischen Schiffbau und Bienenzucht und ihre jeweilige Bedrohung durch Entlassungen und Hornissen: Erst wird gemeinsam gearbeitet an etwas Großem und Schönem, wie Ozeanriesen und Honig, bis das Surren der Arbeitermassen zum Verstummen kommt, Werften geschlossen und Leute entlassen werden.

Dann ist da der herzkranke Gewerkschafter, der sich im Bauch eines gestrandeten Wals behandeln lässt. Und andere Storys von Arbeitslosigkeit, von einem Leben ohne Hoffnung und ohne Renten. Und da ist der halbgespenstische Hund Dixie, anhand dessen die Geschichte seiner wechselnden Besitzer in zugigen und verrauchten Sozialwohnungsbauten erzählt wird.

Kinder, die Erwachsene in einer Liebesgeschichte spielen

Das Mosaik, das Gomes herstellt, bezieht auch Tiere und Geister mit ein. Neben Bienen, Walen und Hunden gibt es einen Hahn, Singvögel - und den Geist einer Kuh bei einer frühmorgendlichen Gerichtsverhandlung in der Ruine eines Amphitheaters. Diese Episode ist eine Kernszene des Films. Der Prozess ist schnell abgeschlossen: Eine Mieterin hat illegal die Möbel ihres Vermieters verkauft. Aber dann wird eine endlos lange Verkettung aus Elend und Schuld aufgedeckt, die überhaupt dazu geführt hat.

So zerfließt bald jede Idee von Gerechtigkeit in den Tränen der Richterin. Man müsste ja selbst die Tiere, die Luftgeister, ja sogar einen Olivenbaum anklagen. Sie alle kommen in dieser Nacht zu Wort, die sich über ein Land gesenkt hat, das in tiefster Armut verfallen ist.

In dieser Nacht gibt es aber eine große Freude an Verkleidung und Spiel. Das Kostüm des Kuhgeistes sieht aus, als hätte man es eilig aus Restbeständen eines Kleiderbasars zusammengebastelt. Und dann sind da diese Kinder auf dem Traktor, die sich vor laufender Kamera vor Lachen kaum halten können, um danach mit großem Ernst Erwachsene in einer Liebesgeschichte zu spielen.

Freude an gemeinsamer Kreation

Wo keine Geschichten mehr erzählt werden können, weil die Filmindustrie bankrott ist, wo Fiktionen sich anfühlen wie eine Verfälschung der Realität, müssen die Kinder eben so tun als ob. Und wo keine Filme mehr gemacht werden können, muss man "Filmemachen spielen". Man hat Gomes vorgeworfen, sein Film habe zu viele Längen und sei schlecht komponiert.

Dem kann man nur antworten, dass er wohl weniger der Schöpfer seines Films sein will als sein erster Zuschauer, der die Kontrolle an Kinder abgibt und dem es weniger um ein gut komponiertes Endprodukt geht als um die Freude an gemeinsamer Kreation. Eine ganze Gemeinschaft macht hier gemeinsam einen Film und verbindet sich dabei mit einer fiktiven und mythischen Vergangenheit, um sich von einer traurigen Gegenwart zu distanzieren, in der sie gnadenlos festsitzt.

Diese Kreation entwirft dabei vor allem eine Zukunft. Gomes hat "1001" seiner Tochter gewidmet, die heute acht Jahre alt ist und den Film später einmal sehen wird, während Scheherazade ihrem Vater einmal sagt, dass Geschichten immer auch Brücken in die Zukunft schlagen müssen. Da fahren sie gerade in alten Kostümen auf einem modernen Riesenrad.

Wenn sich hier die Schranken zwischen Gegenwart und Vergangenheit auflösen, dann auch weil der Film so tut, als würde er die Gegenwart aus der Zukunft betrachten und damit selbst aus dieser Zukunft kommen, aus deren Perspektive vergangene Epochen zusammenrücken und verschmelzen. Um auf diese Weise die traurige Gegenwart ein wenig hinter sich zu lassen.

Das Kino wird mit diesem Film zum Heilmittel, sogar impotente Bürokraten werden gerettet

Natürlich: Wenn hier von portugiesischen Migranten die Rede ist, die in der Antike vor Armut und Elend nach Bagdad flohen, ist das auch eine Anspielung auf eine Flucht ins Reich der Fantasie. Aber Gomes weiß, dass irgendwann die Poesie vorbei ist, alle Geschichten erzählt sind und die Realität zurückkommt, blutrünstig wie der grausame Märchenkönig.

Heute, im Sommer 2016, kennen wir diesen Blutdurst nur allzugut. Nach Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik besteht die europäische Gegenwart aus Terror, Amok, Rassismus und Autoritarismus. Eine Möglichkeit, sich einer traurigen Gegenwart zuzuwenden, ist aber, sie sich aus der Zukunft zu betrachten, um Abstand und Hoffnung zu kriegen.

Wenn Gomes' Filmreihe zum Schönsten und Wichtigsten gehört, was heute im Kino zu sehen ist, dann nicht zuletzt deswegen. Das Kino wird bei ihm zum Heilmittel, indem es eine veritable Zukunft projiziert. Dagegen hätte bestimmt auch der afrikanische Magier nichts einzuwenden, der die schlaffen Glieder der Gegenwartsverwalter aufrichtet. Denn diese zeigen immerhin nach vorne.

As Mil e Uma Noites, Portugal 2015 - Regie: Miguel Gomes. Buch: Telmo Churro, Mariana Ricardo, Miguel Gomes. Kamera: Mário Castanheira, Sayombhu Mukdeeprom. Mit: Miguel Gomes, Rogério Samora, Maria Rueff. Real Fiction, 360 Minuten.

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