62. Internationale Filmfestspiele Berlin 2012:Es ist müßig, die Gegenwart zu vermissen

Jurys zeichnen oft Filme aus, die sie so selbst nie gemacht hätten. Bei der diesjährigen Berlinale hat ein Film den Hauptpreis erhalten, der auf sehr charmante Art von gestern ist. An einem Mangel an Auswahl hat es nicht gelegen. Es ist wahrscheinlich zum Teil eine sentimentale Entscheidung - und es ging wohl auch um Political Correctness.

Susan Vahabzadeh

Das wäre ein Thema für eine filmwissenschaftliche Doktorarbeit: Warum Festival-Jurys so oft Filme auszeichnen, die sie so selbst nie gemacht hätten. In der diesjährigen Berlinale-Jury saßen vier Regisseure, neben Präsident Mike Leigh, der den britischen Kitchen-Sink-Filmen Überraschungseffekte und Humor hinzugefügt hat, Anton Corbijn und François Ozon, die man als Freunde eines wüsten, bildgewaltigen Kinos bezeichnen kann, und Asghar Farhadi ("Nader und Simin"), der ein Meister darin ist, gesellschaftliche Verhältnisse sehr komplex zu analysieren. Prämiert haben sie "Cesare deve morire /Caesar muss sterben)" der Brüder Vittorio und Paolo Taviani. Er handelt vom Theaterspielen mit Häftlingen in Rom - und man fragt sich, warum wer in der Jury diesen Film für den besten gehalten hat.

Award Winners Press Conference - 62nd Berlinale International Film Festival

Die italienischen Brüder Vittorio und Paolo Taviani erhielten bei der 62. Berlinale den Goldenen Bären - für einen schönen altmodischen Film.

(Foto: Getty Images)

An einem Mangel an Auswahl hat es nicht gelegen, es war ein viel stärkerer Wettbewerb als im vergangenen Jahr, und es war vor allem auch jene programmatische, inhaltliche Struktur zu erkennen, die einem Festival erst so richtig zu seinem Sinn verhelfen - zwei Themenschwerpunkte, Angst und Terror am Anfang, Mechanismen in Familien in der zweiten Hälfte, so nebeneinandergestellt, dass der Kontext auch den schwächeren Beiträgen zu mehr Energie verhilft, als sie für sich genommen in Einzelvorführungen hätten.

"Cesare deve morire" war da ein wenig außen vor. Die Tavianis - beide über achtzig Jahre alt und beispielsweise mit "Padre Padrone - Mein Vater, mein Herr", dem Cannes-Sieger von 1977 - zu Ehren gekommen, haben in einem Gefängnis mit Männern, die einiges auf dem Kerbholz haben müssen, Shakespeares "Julius Caesar" inszeniert, den Text und die Proben teilweise in den Gefängnisalltag integriert. Man sieht den Männern zu, wie sie durch das Stück und die Schauspielerei für kurze Zeit mehr zur Besinnung kommen, als ihnen lieb sein kann - das ist nicht wüst und nicht allzu komplex oder witzig, aber ein schöner altmodischer Film, auf sehr charmante Art von gestern.

Festivals wirken immer etwas entrückt

Nun ist das Kino zu langsam, um in Spielfilmen zu reflektieren, was sich im vergangenen Jahr zugetragen hat. Die Finanzkrise wurde zum Dauerzustand, mindestens ein Euro-Land befindet sich am Rande der unkontrollierten Pleite, Fukushima hat die Atompolitik verändert, und beim nächsten Gipfeltreffen der Arabischen Liga, die ihre Zusammenkunft 2011 hat ausfallen lassen, wird der erste Tagesordnungspunkt eine Vorstellungsrunde sein.

Ein Festival muss das irgendwie auffangen - der arabische Frühling zumindest fand sich in der wesentlich reaktionsschnelleren Form des Dokumentarfilms wieder auf der Berlinale, aber selbst der kann dann oft nicht mit der Geschwindigkeit mithalten, in der die Träume von Freiheit, von denen diese Filme erzählen, nach den ersten Wahlen in islamistische Regierungen münden. Es ist müßig, bei einem Festival wie der Berlinale die Gegenwart zu vermissen.

Festivals wirken also immer etwas entrückt. Den Tavianis den Hauptpreis zu geben - das ist trotzdem eine eher gewöhnungsbedürftige Entscheidung, die einem ein bisschen so vorkommt wie eine Flaschenpost, die Mitte der Siebziger ins Wasser geworfen und leider jetzt erst angeschwemmt wurde. Es ist wahrscheinlich zum Teil eine sentimentale Entscheidung.

Der andere Teil ist wohl tatsächlich Programm gewesen in der Jury unter Vorsitz des britischen Filmemachers Mike Leigh - es ging wohl, mehr als ums Kino, um vermeintliche Political Correctness. Anders ist der Darstellerpreis für die kongolesische Laiendarstellerin Rachel Mwanza nicht zu erklären, und schon gar nicht der Silberne Bär für Bence Fliegauf. Sein "Just the Wind" handelt von einer ungarischen Roma-Familie vor dem Hintergrund einer realen, grausamen Mordserie an Roma vor ein paar Jahren. Der Film ist wohl überwiegend als Appell zu verstehen, die Roma, von denen er erzählt, trotz ihres Mangels an Respekt vor dem Eigentum anderer als Menschen zu sehen - und das sollte man nun eigentlich als selbstverständlich voraussetzen können. Das Problem mit solchen Stücken ist, dass sie generell nur ein Publikum erreichen, dass diese Belehrung nicht braucht.

Der Glamour als Parallelveranstaltung

Die Tavianis haben über ihren Film genau das gesagt, als sie den Goldenen Bären entgegennahmen - sie hätten gewollt, dass man die Häftlinge in ihrem Film trotz der langen Strafen als Menschen sieht. Gott sei Dank ist "Cesare deve morire" aber dann doch ein wenig mehr als das.

Aber sie sind eben nicht auf der Höhe von Christian Petzolds "Barbara" (wenigstens den Regiepreis hat Petzold, verdientermaßen, bekommen), der es schafft, die DDR als bewohnbaren Ort nachzuzeichnen, ohne den Schrecken der Repression wegzulassen; sie reichen nicht heran an die Einfühlsamkeit von "L'enfant d'en haut" der Schweizerin Ursula Meier (die eine lobende Erwähnung bekam) über ein alleingelassenes Kind, das versucht, sich ein Leben einzurichten, oder an den Wagemut von Wang Quan'ans für die Kameraarbeit von Lutz Reitemeier ausgezeichneten "White Deer Plain", der die Geschichte eines Dorfes am Ende des 19.Jahrhunderts vor uns ausbreitet, eine Geschichte, an deren Ende dann schon klar ist, dass auch der Kommunismus keine Erlösung bringen wird.

Der Silberne Bär für Mikkel Boe Folsgaard wurde dann aber wenigstens nicht aus politischer Erwägung vergeben, sondern für eine einzigartige Leistung - was Folsgaard in "Die Königin und der Leibarzt", als Christian VII. macht, hat keinerlei Vorbilder - sein Balanceakt zwischen nervig und rührend, beschränkt und aufrührerisch ist schöner kreativer Irrsinn. Und dabei war es seine erste Filmrolle überhaupt. Man will so einem Schauspieler wünschen, dass er ein richtig großer Star des europäischen Kinos wird. Wobei es wahrscheinlicher ist, dass ihn sich Hollywood unter den Nagel reißt.

Vielleicht eine ganz gute Lösung

Das Starkino fand in der Konkurrenz so gut wie nicht statt, Dieter Kosslick hat sich da für eine klare Zweiteilung entschieden. Die Berlinale hatte sich diesmal auf die roten Teppiche wirklich ein Superaufgebot bestellt, aber nichts davon kam für die Preise in Frage - ein Ehrenbär für Meryl Streep, deren "Iron Lady" außer Konkurrenz lief. Oder "Bel Ami", mit dem dann Robert Pattinson zum Schluss noch einmal für einen ganz großen Teenieansturm vor dem Berlinale-Palast sorgte; "Haywire", für den Antonio Banderas und Michael Fassbender angereist waren, Angelina Jolie nebst Brad Pitt für "Land of Blood and Honey", Shah Rukh Khan mit seinem (in Berlin gedrehten) "Don - The King is Back", Keanu Reeves mit seinem selbstgedrehten "Side by Side": Das ist für Schaulustige und Paparazzi eine ziemlich gute Bilanz.

Vielleicht ist es eine ganz gute Lösung, den Glamour, den jedes Festival braucht, als Parallelveranstaltung abzuliefern. So fällt ein wenig von dem Glanz ab für ein paar Filme, die außerhalb des Festivalbetriebs kaum Aufmerksamkeit bekämen. Das ist nun mal so: Wie viel Spaß ein dänischer Kostümfilm machen kann, der die Werte der Aufklärung feiert - das weiß man erst, wenn man ihn gesehen hat.

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