80. Geburtstag:Die Mehrheit hat nicht immer recht

Peter von Matt wird 80

Der Germanist Peter von Matt wurde am 20. Mai 1937 in Luzern geboren. Von 1976 bis 2002 lehrte er Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.

(Foto: dpa)

Marcel Reich-Ranicki war überzeugt davon, dass niemand in der Schweiz so gut schreibe wie der Germanist Peter von Matt.

Von Martin Ebel

Niemand in der Schweiz schreibe so gut wie er, hat Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt. Das war laut getönt, gut und gönnerhaft gemeint (und gemein gegenüber der gesamten Schweizer Literatur). Die beste Prosa des Landes, die eines Germanisten? Nun, vor wenigen Jahren erhielt Peter von Matt für seinen Essayband "Das Kalb vor der Gotthardpost" den Schweizer Buchpreis; die vier Finalkonkurrenten waren alle Belletristen, und keine schlechten. 1937 in Luzern geboren, war Peter von Matt von 1976 bis 2002 Professor für Neuere Deutsche Literatur in Zürich. Generationen von Germanisten, fast die gesamte Schweizer Literaturkritik ist durch seine Schule gegangen.

Stimmt der Superlativ also? Müßige Frage. Wichtiger, als dass er gut schreibt - und er schreibt wirklich sehr gut - ist, was und wie er schreibt über Literatur. Die erzählt er auf eine Weise nach, dass uns die bekanntesten Werke, von Homer bis zu einer Innerschweizer Sage, wie neu vor Augen treten. Zugleich durchdringt er sie, dringt tief in das Höhlensystem einer Novelle, einer Szene, eines Gedichts ein, zeigt den Untergrund, die Sackgassen und Irrwege, die unterirdischen Seen und vielleicht den Kuppelbau einer Tropfsteinhöhle. Und nie, nachdem er uns all das entdeckt hat, stürzt das Gebäude zusammen zum Trümmerhaufen eines bloßen Begriffs.

Begriffen und Theorien misstraut er. Seine Devise lautet: Man muss genau hinschauen. Das bedeutet: jedes Element eines literarischen Textes ernst nehmen, für sich und im Zusammenhang. Erst dann offenbart Literatur ihren Reichtum, ihre Widersprüche, ihre Abgründe. Etwa in der skandalösen Kussszene der Kleist-Novelle "Die Marquise von O.", als der Vater, der die vermeintlich herumhurende Tochter eben noch aus dem Haus prügeln wollte, diese nun auf dem Schoss hält, ihr "lange, heisse, lechzende Küsse" gibt, "gerade wie ein Verliebter", und zugleich haltlos weint, "wie ein Kind". Bei psychoanalytisch inspirierten Germanisten läuten da die Inzest-Glocken, wenn nicht gleich eine zweite Vergewaltigung konstatiert wird. Das ist grob und oberflächlich und zielt am Eigentlichen vorbei, nämlich dem rätselhaften, unauflösbaren und doch vollkommen folgerichtigen Verhalten der Kleistschen Figuren. Man muss genau hinschauen, dann schaudert es einen.

In einem früheren Essayband hat Matt einmal Kleists Welt so zusammengefasst: "Aus kreatürlicher Einheit mit der Natur ist der kleistsche Mensch in die Reflexion und die Sprache entlassen und damit in eine Welt von Täuschung, Lüge und Betrug, in eine Welt, wo man den eigenen sehenden Augen, den eigenen greifenden Händen nicht trauen darf und wo man wahnsinnig wird oder zum Verbrecher, wenn man sich auf Empirie und Logik und Sprache verlässt." Kleist in sechs Buchzeilen, wer macht ihm das nach?

Literatur ist für Peter von Matt ein Erkenntnismittel eigener Art und von eigenem Rang, wie Mythos, Philosophie oder Wissenschaft, sie bindet den Menschen an seine Ursprünge und zeigt ihm seine Möglichkeiten auf. Nichts Menschliches ist ihr fremd, nicht das Heilige, nicht das Teuflische, nicht das Unscheinbare, und nichts ist wiederum für den Interpreten zu unscheinbar, um nicht "genau angeschaut" zu werden auf sein Erkenntnispotenzial hin. Da ist die Intrige, über die er ein ganzes Buch, sein Meisterwerk, geschrieben hat, in dem er der "Theorie und Praxis der Hinterlist" nachspürt. Von der Täuschung und Tarnung im Tierreich gelangt er zu den großen Schurken Shakespeares und schließlich zur Intrige als einer anthropologischen Chance: dem Moment der Freiheit, das dem Verkleiden und Verstellen innewohnt, weil der Mensch dadurch dem Zwang des Erkannt- und Kontrolliertwerdens entkommen kann.

Oder da ist ein so banales Gefühl wie die Schadenfreude, das eigentlich ein höchst komplexes ist, zwischen Rache und Mitleid angesiedelt, und das ein Autor wie Gottfried Keller (in seiner Novelle "Die drei gerechten Kammmacher"), mit subtilen Erzählstrategien dazu nutzt, unsere eigene Ambivalenz in dieser Sache offenzulegen.

Seine Bücher, alle bei Hanser erschienen - "Liebesverrat", "Verkommene Söhne, missratene Töchter" , "Die verdächtige Pracht", zuletzt in diesem Frühling "Sieben Küsse" - haben ihm weit über die Schweiz hinaus ein breites Lesepublikum eingetragen. In seiner Heimat ist er eine kritische Instanz, die um Rat und Meinung gefragt wird in allen denkbaren Fragen des Zusammenlebens. Matt scheut sich nicht, alte Mythen zu dekonstruieren. Neutralität? Die Nachbarländer wollten das so. Und neue, von rechtsnationaler Seite propagierte Mythen zu attackieren. "Die Mehrheit hat nicht immer recht", hält er den Populisten und ihrer "heiligen Kuh des Volksentscheids" entgegen, oder "Jedes Abstimmungsergebnis ist Zufall". Mit solchen Sätzen ist er womöglich der meistgehörte Schweizer Autor. An diesem Samstag wird er 80 Jahre alt.

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