68. Filmfestspiele in Venedig:Madonnas Kleinmädchentraum

Wer beim Festival in Venedig das Geschrei der Paparazzi hört, zweifelt manchmal an der Zivilisation. Deren vermeintliche Hüter schränken immer noch die Bewegungsfreiheit von Roman Polanski ein, doch der macht aus seiner Situation das Beste und legt mit "Carnage" einen beinahe erschreckend perfekten Film vor. Madonna möchte man für ihre zweite Regiearbeit hingegen würgen.

Tobias Kniebe

Wie dünn der Firnis ist, den wir gemeinhin Zivilisation nennen, zeigt sich mitunter auch auf Filmfestivals. Zum Beispiel möchte man nicht ins Visier jener Meute geraten, die darauf wartet, dass Madonna endlich mit dem Wassertaxi am Festivalpalast anlegt.

68th Venice Film Festival - W.E. Photocall

Es war ein züchtiger Auftritt bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig: Madonna - so wie sie dem Wassertaxi entstieg.

(Foto: dpa)

Die Welt will Fotos von diesem Moment, soviel ist sicher, und sollte der Star einen Büstenhalter von Gaultier oder sonst was Verrücktes präsentieren, kann das für einen Paparazzo leicht mal ein Monatsgehalt bedeuten. Das Geschrei, sobald sich das Boot nähert, ist deshalb selbst von Ferne furchterregend: Da brüllt eine hungrige Bestie, die ziemlich lange in der Hitze geschwitzt hat und jetzt Blut sehen will. Schaudernd lenkt man die Schritte in die Gegenrichtung, flieht in den Schutzraum des Kinos. Wo allerdings dann ebenfalls die Emotionen hochkochen.

Roman Polanski, der alte Fuchs, weiß das in seinem neuesten Streich zu nutzen. Bald achtzig Jahre ist er jetzt alt, aber geliebt, gehasst und umstritten, als wäre er immer noch dreißig. In jüngster Zeit war er in seiner Bewegungsfreiheit etwas eingeschränkt. Einen Film, für den er Frankreich verlassen müsste, kann er nicht drehen - die USA hätten ihn immer noch zu gerne in Los Angeles vor Gericht gestellt, seine Anwälte raten daher von Reisen in unsichere Drittländer ab. Aber wie er aus jeder biographischen Katastrophe auch neue, rätselhafte Kräfte zieht, so weiß er auch diese Einschränkung in einen Vorteil zu verwandeln.

Wenn ich nicht raus darf, hat er sich wohl gesagt, dürfen es meine Figuren eben auch nicht mehr. Dann sperre ich sie einfach in ein Studio in Paris ein, behaupte, in Brooklyn zu sein - lasse sie mit all ihren Vorurteilen, Lebenslügen und ungelösten Konflikten aufeinander los. Puff, schon verdampft der Firnis der Zivilisation.

So ungefähr funktioniert "Carnage / Der Gott des Gemetzels" - ein Stoff, den es sehr zu Polanskis Vorteil schon länger als erfolgreiches Theaterstück gibt. Darin sieht sich das gehobene Kulturbürgertum von Brooklyn bis München im Zerrspiegel - und lacht dann ein wenig zu laut über all die Dreck speienden Dämonenfratzen, die ihm daraus entgegengrinsen. Das Stück ist, als eine sehr geradlinige Studie der Eskalation in knapp neunzig Minuten, beinahe erschreckend perfekt. Polanski hat sich mit der Autorin Yasmina Reza nur noch ein wenig zusammengesetzt, die Referenzen leicht aktualisiert, noch mal an der englischen Übersetzung gefeilt - und schon war er praktisch drehfertig.

Lachen und Weinen nah beieinander

Jodie Foster und John C. Reilly haben also eingeladen. Ihr elfjähriger Sohn hat bei einer Schlägerei im Park zwei Zähne eingebüßt und schließlich auch den Täter benannt: Es war der Junge von Kate Winslet und Christoph Waltz. Jetzt wollen sich beide Paare, erstmal ohne die Kinder, aussprechen und die Versöhnung der Kombattanten vorbereiten. Wie man das als zivilisierte Menschen eben so macht. Der weitere Verlauf des Abends ist nun allerdings mehr oder weniger bekannt, der Reiz liegt hier weniger in der Überraschung als in der Beobachtung der schauspielerischen und inszenatorischen Feinarbeit.

Jodie Foster als abgehärmte, Afrika-engagierte Möchtegern-Autorin in gedeckter Strickware, dazu John C. Reilly als gemütlicher Brummbär-Ehemann mit Eisenwarenhandlung und einem pragmatischen Spruch in jeder Lebenslage - das glaubt man natürlich sofort. Genauso leicht kauft man Christoph Waltz den Winkeladvokaten, Berufszyniker und manischen Dauertelefonierer ab, einzig Kate Winslet als zickige Investmentbankerin mit eruptiven Magenproblemen muss ein wenig gegen ihren kumpelhaften Charme anspielen.

Das Publikum geht erwartungsgemäß mächtig mit, aber die interessantere Frage am Ende ist natürlich die, ob Polanski diese vier Schwergewichte gut geführt, und vor allem zusammengeführt hat. Und ob, damit einhergehend, hinter diesen bekannten Leinwandgesichtern tatsächlich noch neue, unbekannte Nuancen aufblitzen konnten und durften. Ohne hier jetzt schon ins Detail zu gehen: Diese Frage kann glücklich bejaht werden.

Weniger glücklich läuft es mit "W. E.", der zweiten Regiearbeit von Madonna, die eine ganz andere Frage aufwirft: Kann es sein, dass man in der Popmusik durchaus noch mit Instinkten, unreflektierten Gefühlen und durchschlagenden Lösungen im Viervierteltakt durchkommt - in einem so komplexen Metier wie Filmregie aber schon lange nicht mehr? Es ist jedenfalls schon ein Rätsel, wie man auf dem einen Gebiet Großes und Bleibendes leisten kann, nur um auf dem anderen ein derart jämmerliches Bild abzugeben - wo beides doch letztlich mit künstlerischen Entscheidungen zusammenhängt.

"W. E." ist eine Art Kleinmädchentraum: Unglückliche und in ihrer Ehe unterdrückte Chirurgengattin im New York der späten neunziger Jahre träumt sich in die Welt der historischen Verführerin Wallis Simpson, die bekanntlich dem König von England in den dreißiger Jahren das Herz gestohlen hat, weswegen der auf den Thron verzichtete und die "Romanze des Jahrhunderts" ihren Ausgang nahm. Nicht nur, dass hier die stereotypen Vor-, Zurück- und Überblendungen gar nicht enden wollen: Wirklich jeder Musikeinsatz, jede Kameraeinstellung, jede Zeitlupe ist in diesem Film eine Zumutung, beinah ein Schlag ins Gesicht. Man spürt, wie ein gewisser innerer Firnis dabei langsam Risse bekommt - und in den letzten zehn Minuten möchte man die Regisseurin allen Ernstes würgen.

In der Polanski-Vorführung wiederum lachte ein fülliger Italiener mit Halbglatze so laut, dass ein hagerer deutscher Kollege, der in der Reihe vor ihm saß, mehrfach um Ruhe und schließlich um Gnade für sein Trommelfell bitten musste. Es half nichts. Fast wären die Fäuste geflogen.

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