60. Filmfestspiele in Cannes:Blaubeeren und Blut

Melancholisch wie mörderisch - Auftakt der Fimlfestspiele Cannes: Wong Kar-Wai zeigt die Reststücke in der Vitrine des Lebens, Christian Mugui blutige Föten in Hotelzimmern und David Finch versucht die Sieben Todsünden zu überbieten.

Tobias Kniebe

Zum Höhepunkt der Party wurden Teller mit Blaubeerkuchen gereicht - und so oft zurückgewiesen, dass die Kellnerinnen bald ganz verlegen dreinschauten. Jude Law hatte keine Zeit, ein Pulk von nicht mehr ganz jungen Frauen hing an seinen Lippen, im Blick eine kaum verschleierte Gier. Norah Jones saß eher still auf einem Sofa und schüttelte den Kopf, Andie MacDowell würdigte das Angebot keines Blickes, und Wong Kar-Wai schaute nur unergründlich durch seinen Sonnenbrille.

Aber auch die anderen Gäste griffen nicht zu, und irgendwann war die Sache klar: Wahrscheinlich ist Blaubeerkuchen wirklich der traurigste Kuchen der Welt - als einziger unberührt in der Vitrine, wenn alle anderen längst ausverkauft sind. Und wahrscheinlich muss man selbst sehr traurig sein, um mit Genuss ein Stück davon zu essen. Weil es ein Bekenntnis ist, so wie man auf einem Begräbnis schwarz trägt.

Vitrine des Lebens

Im wirklichen Leben mag einem das nie aufgefallen sein, aber in Wong Kar-Wais wunderbarem Eröffnungsfilm "My Blueberrry Nights" ist diese Beobachtung von unumstößlicher Wahrheit. Sie stammt von Jeremy (Jude Law), einem Engländer in New York, der durch Zufall Betreiber eines kleinen russischen Cafés geworden ist. Genauso zufällig wird er Zeuge einer Trennungsgeschichte, als Bote für eine junge Frau (Norah Jones), die nicht mehr mit ihrem Exfreund redet. Dafür redet sie mit Jeremy, der ihr eines Nachts vom traurigen Schicksal des Blaubeerkuchens erzählt. Sofort bestellt sie ein Stück mit Eiscreme.

Genau das Richtige für ein gebrochenes Herz in New York, und außerdem eine symbolische Geste: Wir Underdogs, die wir in den Vitrinen des Lebens stehengelassen werden, gehören zusammen - und wenn wir es schaffen, unseren Schmerz zu überwinden, werden unsere Küsse am Ende so süß schmecken wie die Blaubeeren selbst. Man ahnt, dass auch Jeremy einmal hinter seiner Vitrine stehengelassen wurde - und schon ist man wieder im Land der verlorenen Liebe, das Wong Kar-Wai wie kein anderer Regisseur durchmessen hat.

Traumwandlerisches Erblühen

Dass das Land hier Amerika heißt, dass gebrochene Herzen nun auch in New York, in Memphis, in der Wüste von Arizona und in Las Vegas umherirren, ist ein großer Schritt für diesen Meister der chinesischen Melancholie. Andererseits stimmt das aber auch wieder nicht: Amerika wird einfach Wong-Kar-Wai-Country, vom ersten Bild an. Es ist, als ob die Farben verlaufen, die Konturen sich auflösen, die Klischees sich verflüssigen: Ein Land, das schon lange in seiner Ikonographie erstarrt schien, wird plötzlich wieder lebendig.

Wer größere Neuigkeiten als diese erwartet hatte, musste enttäuscht werden, wie es einige Kritiker in Cannes auch waren. Aber das heißt, all die atemberaubenden Details dieses Films zu übersehen, seine traumwandlerische Gelassenheit und die Art, wie dieser Regisseur jede Frau, die vor seine Kamera tritt, auf ungeahnte Weise erblühen lässt - hier zum Beispiel Rachel Weisz und Natalie Portman.

Norah Jones wiederum, ohne jede Schauspielerfahrung, besetzt mühelos das Zentrum des Films: Was sie als Sängerin so unauffällig und konkurrenzlos macht, dieses vollkommene In-sich-Selbst-Ruhen, macht sie auch als Schauspielerin für den Film perfekt.

Goldene Zeit der Brutalität

Was aber könnte diesen gelungenen Start mit dem Rest des Festivals verbinden? Vielleicht die Entschlossenheit der Filmemacher, den zunehmend hektischen Erwartungen des Publikums einen eigenen Rhythmus, eine eigene Genauigkeit, eine unaufgeregte Souveränität entgegenzusetzen. Der rumänische Wettbewerbsbeitrag "4 Luni, 3 Saptamini si 2 Zile - Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" zum Beispiel könnte gar nicht weiter von der Romantik eines Wong Kar-Wai entfernt sein, ja es wirkt fast, als sei er vom Festival als eine Art Gegengift programmiert worden, das notorische Schwärmer gleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Blaubeeren und Blut

Und doch: Der Regisseur Cristian Mungiu lässt sich auf mindestens ebenso eigenwillige Weise Zeit, ein wirklich zum Händeringen trostloses Rumänien unter dem Kommunismus zu rekonstruieren - und die Zuschauer langsam und unaufhaltsam an das Dilemma zweier Freundinnen heranzuführen, die gemeinsam eine illegale Abtreibung durchstehen wollen.

Die Staatsmacht ist nie im Bild zu sehen, aber doch omnipräsent, nicht zuletzt in der Angst der Menschen und der Brutalität, mit der die sich untereinander ausbeuten - sie kulminiert im schwer erträglichen Bild eines blutigen Fötus in einem Hotelbadezimmer. "Geschichten aus der Goldenen Zeit" verspricht der höhnische Untertitel des Films.

Auch "Zodiac", der erste amerikanische Palmenkandidat, schert sich wenig um mögliche Erwartungen: Eine Serienkillergeschichte, inszeniert vom notorischen Hollywood-Bilderstürmer David Fincher, der sich bereits mit "Seven" einen prominenten Eintrag in die Annalen des Genres gesichert hat - das weckt doch große Sensationslust: Sind die sieben Todsünden etwa noch zu überbieten?

Cartoon-Killer

Keineswegs, antwortet der Film mit großer Ruhe. Hier würdigt Hollywood, ganz im Gegenteil, vielleicht erstmals wirklich die Energie, die Sammelwut und die Detailbesessenheit jenes Menschenschlags, der sich der Leidenschaft "True Crime" verschrieben hat - der Faktensuche in realen, oft von der Polizei nie gelösten Fällen. Der sogenannte "Zodiac"-Killer, der ab 1969 mehrere Jahre lang in San Francisco und Umgebung wütete, mit fünf gesicherten Opfern und unzähligen Chiffre-Botschaften an Presse und Polizei, hat dabei immer in besonderer Weise die Phantasie angeregt.

David Fincher zeigt, in faszinierender und gleichzeitig fast ermüdender Genauigkeit, die Arbeit der Polizei und der Reporter, vor allem aber die Recherchen eines Mannes, den das alles eigentlich gar nichts anging und der doch am Ende eine (mögliche) Lösung fand: Robert Graysmith (Jake Gyllenhaal), tatsächlich nur der Cartoonist des San Francisco Chronicle und doch später der Autor des definitiven Buchs über den Fall.

Wenn man überlegt, wann es Hollywood mit der Wahrheit einer Spurensuche einmal so genau genommen hat, muss man schon zwanzig Jahre zurückgehen bis zu "Die Unbestechlichen - All the President's Men". Ein Ausschnitt des Eastwood-Klassikers "Dirty Harry" (der vom selben Fall inspiriert ist) sehen sich Finchers Helden jedenfalls einmal im Kino an - der wirkt im Vergleich wie ein reiner Cartoon.

Süße Melancholie

Was wiederum den Blaubeerkuchen betrifft, haben wir am Ende der Party dann doch noch ein Stück gegessen. Diese ständige brutale Ablehnung, das konnte man einfach nicht mit ansehen. Er schmeckte überraschend gut, und an der schweren Melancholie, die uns auf der Rückfahrt zum Hotel überfiel, war der Kuchen vermutlich vollkommen unschuldig.

Oder doch nicht? Stand uns nun eine echte Blueberry Night bevor? Trost brachte die Erinnerung an das hoffnungsvolle Ende des Films: Wenn jetzt sogar Wong Kar-Wai wieder an das Überleben der Liebe glauben kann - können wir es am Ende nicht auch?

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