70. Filmfestival von Venedig:Major Tom und sein Haus am See

Sandra Bullock und George Clooney beim Filmfestival Venedig 2013

Sandra Bullock und George Clooney präsentieren beim Filmfestival von Venedig ihren Film "Gravity".

(Foto: Getty Images)

Was für ein Glück, dass es vom Comer See nur ein Katzensprung nach Venedig ist: George Clooney eröffnet mal wieder das Filmfestival von Venedig, diesmal mit seinem 3-D-Weltraumspaziergang "Gravity" und Ko-Astronautin Sandra Bullock.

Von Tobias Kniebe, Venedig

Unwahrscheinliche Zufälle, die irgendjemand den Hintern retten, sind im Kino nicht gern gesehen. Das liegt nicht etwa daran, dass die Zuschauer die Wahrscheinlichkeitsrechnung so lieben, oder daran, dass sie nicht wollen, dass Ärsche gerettet würden. Im Gegenteil: Rettung muss sein - nur eben nicht zu billig. Blut, Schweiß, Tränen und Hirnschmalz bei der Drehbucharbeit - oder der Kinokarten-Investor fühlt sich betrogen.

Dabei helfen unwahrscheinliche Zufälle manchmal durchaus, gerade im echten Leben. Die Tatsache zum Beispiel, dass die 70. Filmfestspiele von Venedig mit dem strahlenden Grinsen von George Clooney eröffnet werden konnten, und dass damit dem Festivalchef Alberto Barbera gewissermaßen der Arsch gerettet wurde, kann man auf vielfache Weise interpretieren: Warner Brothers wollten ihren Film "Gravity", in dem Clooney mitspielt, auf einem großen Festival sehen; Barbera fand den Film brillant; er hält den Regisseur Alfonso Cuarón für einen großen Filmemacher; und so fort. Die plausibelste Erklärung, die wir uns vorstellen können, beruht aber auf einem eher unwahrscheinlichen Zufall: George Clooney hat ein Haus am Comer See. Von dort ist es nur ein Katzensprung nach Venedig, der kaum Reisekosten verursacht, der Star ist ohnehin im Old-Europe-Modus, also sagt er: Let's do it. Gewichtiges Indiz: Vor gerade mal zwei Jahren, mit "The Ides of March", hat Clooney Venedig schon einmal eröffnet.

So darf man sich diesmal die 3D-Brille aufsetzen und mit "Gravity" zu einem, wie es so schön heißt, Weltraumspaziergang aufbrechen. Ein amerikanisches Space Shuttle schwebt sechshundert Kilometer über der Erde, man kann Küsten und Gebirge und Flussläufe erkennen, das Meer leuchtet tiefblau und wunderschön. Die Astronauten der Mission STS-157 sind ausgestiegen und basteln an der Technik herum, während sie Fehlerprotokolle mit der Zentrale abgleichen, die auch hier selbstverständlich nur "Houston" gerufen wird.

Saukalt dort oben

Präziser gesagt arbeiten eigentlich zwei, der dritte schwebt mit seinem Raketen-Rucksack entspannt durch die Gegend und erzählt über Funk irgendwelche Geschichten von seinen Exfreundinnen, die alle schon tausendmal gehört haben. In einem Film, in dem George Clooney mitwirkt, darf man dreimal raten, wer das nun ist. Nicht umsonst aber gab es einen Vorspann, in dem die wichtigsten Fakten noch einem schriftlich festgehalten wurden: Es ist saukalt dort oben, bis zu minus 256 Grad, es gibt keinen Sauerstoff außer dem, den man mitbringt, kurz: "Das Leben im Weltall ist unmöglich." Das musste, nach all den Star Treks und Star Wars, die wir im Kino schon erfolgreich überlebt haben, wirklich noch mal gesagt werden.

Und also darf die Idylle auch nur von kurzer Dauer sein. Houston erzählt irgendetwas von russischem Weltraumschrott im Anflug, Minuten später kommt die Meldung, dutzenden Satelliten seien bereits auseinandergeflogen, dann bricht die Kommunikation ab, selbst George Clooney wird nun ernst - und im nächsten Moment rasen bereits Metallteile heran, die Ernst Jünger in seinen Stahlgewittern wie einen Warmduscher erscheinen lassen.

Ging es im echten Weltraum, so wie wir ihn bisher von der NASA kannten, nicht eher in Zeitlupe zu? Egal. Die Körper und Gegenstände, die in "Gravity" aufeinandertreffen, tun dies jedenfalls mit höchster Wucht und Beschleunigung. Und sehr bald sind George Clooney und Sandra Bullock, die eine mit dem Weltraum nicht allzu vertraute Wissenschaftlerin spielt, nicht nur die einzigen Überlebenden der Mission - sie treiben mutterseelenallein um ein völlig zerstörtes Raumschiff.

War es vielleicht dieses Gefühl der Verlorenheit, dass bei den Machern von Venedig auf eine gewisse Resonanz stieß? Denn eigentlich ist so ein siebzigster Geburtstag ja doch ein großes Ding, für das man jahrelang plant und baut, um sich vor der Welt besonders fein herauszuputzen. Im Lido ist davon nichts zu sehen: Dieselben Bauruinen wie immer, dasselbe dicht gemachte, vor sich hinrottende Hotel Des Bains, dieselben Klagen, dass der große Konkurrent, das Festival von Toronto, längst die besseren Filme hat. Zudem möchte man die Gründungsjahre nicht wirklich erinnern - der Hauptpreis des Festivals hieß damals nicht umsonst Coppa Mussolini. So haben nun 70 Filmemacher, nur teils prominent, 70 Mini-Filme zum Geburtstag gedreht, aber auch das praktisch ohne Geld. Der große Bernardo Bertolucci, der auch der Jury vorsteht, filmt zum Beispiel 100 Sekunden lang seine eigenen Schuhe - wenn wir das denn richtig gedeutet haben.

Hollywood hat seine Schuldigkeit getan

Aber, unwahrscheinliche Zufälle hin oder her: Gäste wie Clooney und Bullock finden ja doch den Weg hierher, Bret Easton Ellis, Paul Schrader und Hollywood Bad Girl Lindsay Lohan (noch nicht ganz sicher) haben sich für "The Canyons" angesagt, dazu Nicolas Cage, für David Gordon Greens Südstaaten-Drama "Joe", Scarlett Johansson, Judi Dench, James Franco und viele mehr. Man darf eben einfach nie aufgeben, Augen zu und durch - das gilt nicht nur für das große Venedig-Gefühl, das predigt auch George Clooney seiner Co-Astronautin Sandra Bullock. Noch in der Katastrophe, mit nur noch wenigen Minuten Sauerstoff zum Überleben, darf er fast übernatürlich entspannt und heldenhaft bleiben - kein Wunder, dass er es am Ende klüger fand, die Rolle mit einem Augenzwinkern anzulegen und sich irgendwann dem großen, leeren, wunderbaren Major-Tom-Gefühl des Weltraums hinzugeben.

Sandra Bullock, am Anfang so schwach, muss dagegen kämpfen und kämpfen. Nominell bleibt der Film dabei innerhalb der Grenzen der Physik, es gibt also nicht plötzlich Aliens oder Wurmlöcher. Zugleich will er aber eine Mission Impossible sein. Wenn die amerikanische Raumfähre explodiert, gibt es in erreichbarer Entfernung eben noch eine russische - welch ein Zufall! Weil wir eben mehr sind als Schweine im Weltall, weil wir diesen unglaublichen, im Kosmos einzigartigen Überlebenswillen haben, hat das Universum schließlich ein Einsehen - und rettet uns. Venedig ist eröffnet, Hollywood hat seine Schuldigkeit getan, George Clooney darf zurück an den Comer See . Es kann losgehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: