66. Filmfestival von Cannes:Unter den Kinosesseln brodelt glühende Lava

Ryan Gosling und Rhatha Phongam in "Only God Forgives".

Ryan Gosling als Julian und Rhatha Phongam als Mai in "Only God Forgives".

(Foto: dpa)

Cannes öffnet die Tore zur Unterwelt: Seit er vor zwei Jahren "Drive" ins Kino brachte, gilt der Däne Winding Refn als der vielleicht entschlossenste Stilist des Weltkinos, verehrt und kritisiert zugleich. In "Only God Forgives" steht wieder Ryan Gosling im Zentrum, doch gegen den Stilwillen, der hier regiert, wirkt "Drive" wie ein freundlich-verwaschenes Amateurvideo.

Von Tobias Kniebe, Cannes

Allmählich ist es doch auffällig, was Mitte der zweiten Woche passiert, jedes Jahr von Neuem. Sieben oder acht Tage Cannes sind dann vorbei, im Kopf überlagern sich Myriaden von Einzelbildern, Filmszenen, Eindrücken, das klare Denken ist angegriffen, das Unterbewusstsein entblößt - und der Schlafentzug so hart, dass fast schon die Antifolterkonvention der UN greifen würde, könnte man irgendjemand anders dafür verantwortlich machen als sich selbst.

Absichtlich gerade dann, wenn dieser hochfragile Zustand erreicht ist, öffnen die Festivalmacher das Tor zur Unterwelt. Dann geht es zum Beispiel hinein in die dunkle Unterführung von Gaspar Noés "Irréversible", wo Vergewaltigung und Mord lauern; dann stürzt man mit demselben Filmemacher in die Nacht von Tokio, "Enter the Void". Auch Lars von Trier mit "Melancholia" und zuletzt Leos Carax mit "Holy Motors" lieferten in Cannes schon solche wilde Out-of-body-Erfahrungen, Reisen ins Innerste ihrer Träume und Ängste, Bilderdrogentrips. Und jetzt eben Nicolas Winding Refn, mit "Only God Forgives".

Dieses fast unhörbare Vibrieren der Basslautsprecher, damit geht es schon los. Als würde da etwas brodeln, unmittelbar unter den Kinosesseln, die glühende Lava des Erdkerns oder gleich die Hölle selbst. Darüber liegt Bangkok in all seiner schwülen Hitze, eine Stadt voller Dunkelkammern, eingetaucht in rotes und gelbes und blaues Licht, das aber chancenlos bleibt gegen das Reich der Schatten. Und nicht nur in Cliff Martinez' Musik verdichten sich Halbtonschritte des Verderbens zum Schicksalsmotiv: Ein Sohn muss begraben, ein Bruder gerächt, der unstillbare Hass einer Mutter gestillt werden. Oder auch nicht.

Seit er vor zwei Jahren seinen "Drive" ins Kino brachte, gilt der Däne Winding Refn als der vielleicht entschlossenste Stilist des Weltkinos, verehrt und kritisiert zugleich. Ob aber unter der perfekten Neo-Noir-Oberfläche von "Drive", die sich im stoischen Spiel von Hauptdarsteller Ryan Gosling spiegelte, tatsächlich eine größere Idee verborgen war - das konnte vor allem deshalb bezweifelt werden, weil im Herzen des Films ein regressives Heileweltbildchen schlummerte: Vater-Mutter-Kind. Mit solcher Naivität räumt "Only God Forgives" nun aber gründlich auf.

Wieder steht Gosling im Zentrum, diesmal als Boss eines Thaiboxing-Clubs in Bangkok, der aber nur Fassade ist für den Drogenring, den sein Bruder und vor allem seine Mutter betreiben - Kristin Scott Thomas als unfassbar blonde Höllenbraut, eine Mischung aus Lady Macbeth and Donatella Versace. Diese Welt besteht aus maskenhaften Männergesichtern und käuflichen Frauen in fahlen Glaskästen, alles verlangsamt, irreal, mit Zeitlupen gar nicht mehr in den Bildern, sondern gleich in den Bewegungen der Akteure selbst. Und dann immer wieder diese Explosionen der Gewalt, die wahre Schlachtplatten aus menschlichem Fleisch zurücklassen, Action-Paintings aus Blut. Gegen den Stilwillen, der hier regiert, wirkt "Drive" wie ein freundlich-verwaschenes Amateurvideo.

Und wieder einmal fragt man sich, warum Sex und Gewalt so unentwirrbar verschlungen sind im Kino der Gegenwart, gerade bei Filmemachern, die sich wirklich noch verstörende Fragen stellen. Das ging schon los bei François Ozon, der die "Belle de Jour"-Idee einer Prostituierten wiederbelebt hat, die angeblich in jeder Frau verborgen liegt. Aber auch Claire Denis kann nicht davon lassen, in "Les Salauds/Bastarde", wo sie ein männlich-kapitalistisches Strauss-Kahn-Lustmonster gebiert, als Rache- und Hassfigur - nur um dann aber doch ganz anders abzuzweigen. Selbst im Wettbewerbsfilm für die Dritte-Welt-Quote aus Tschad, in "Grisgris" von Mahamat-Saleh Haroun, regieren die Crimelords, die schönsten Mädchen sind Ware, und die Frauen des Dorfes antworten mit ihrer eigenen Form von Gewalt.

All das ist aber noch gar nichts gegen den blutigen Ödipus-Furor und die Kastrationsmetaphern mit dem Samurai-Schwert, die Nicolas Winding Refn auffährt, um dem rasenden Begehren wieder Herr zu werden, das eine Stadt wie Bangkok entfesseln kann. Seinem Helden, noch stummer als sonst, gibt er die Hände als Sexualorgane, aber selbst diese dürfen hier nichts berühren. Bei den Treffen mit der wunderschönen Maï (Ratha Phongam) werden sie festgebunden, jede Berührung einer Frau muss umgewandelt werden in Gewalt gegen einen Mann, angeblich haben diese Hände sogar den eigenen Vater getötet - und erst am Ende finden sie einen blutigen Ruheplatz bei der Mutter, der gehassten, geliebten, begehrten Dämonin.

Nur die schrecklichen Folterszenen, die Exekutionen und Verhöre dazwischen, die Polizeiuniformen und die Standards des Mafiafilms könnten einen falschen Eindruck erzeugen. Recht gegen Unrecht, Staat gegen Unterwelt, Polizeigewalt gegen Verbrechercodes, um all diese Dinge geht es hier nur sehr äußerlich. Auch der finale Showdown dient lediglich dazu, die lächerliche Unterlegenheit des Helden zu demonstrieren: Er kämpft gar nicht gegen irdische Kräfte, sondern in Wahrheit gegen Gott. Und Gott hat hier das unbewegte, rundlich-freundliche Gesicht des Schauspielers Vithaya Pansringarm.

Am Ende zeigt sich, in der zweiten Woche, die wahre Funktion jener wilden Kinotrips, die hier so gern platziert werden: Man wird hineingesogen und wieder ausgespuckt, man steigt in die Unterwelt hinab und darf doch wieder auftauchen, man klatscht frenetisch oder brüllt ein Buh - wie bei der sehr geteilten Reaktion auf "Only God Forgives". Das Schöne aber ist: Zusammen mit zweitausend anderen Filmfanatikern, die ebenfalls erregt über das gerade Gesehene diskutieren, wird man Teil jenes bienenstockartigen Summens und Diskursbruzzelns, das in der Filmwelt "Buzz" genannt wird. Vor allem aber ist man wieder sehr wach.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: