59. Filmfestival in Cannes:Wenn nichts mehr geht, geht Sex

Nach den Irrungen des blaß gebliebenen Da Vinci Codes rumpeln jetzt die Tumulte des Herzens, die Tumulte der Politik, die normalen Tumulte eines Film-Festivals also. Filme von Lou Ye und Ken Loach im Wettbewerb.

TOBIAS KNIEBE

Zu den großen Mythen von Cannes gehört die Behauptung, dass der Jurypräsident den Lauf eines Festivals beeinflussen kann. Normalerweise ist das reiner Aberglaube - es gibt neben ihm noch acht weitere, mehr oder weniger berühmte Juroren, und im ersten Schritt zählt bei der Entscheidung keine Stimme mehr als eine andere. In diesem Jahr spürt man allerdings doch, wie Wong Kar-Wai, die Sphinx hinter dunklen Brillengläsern und der größte Romantiker unter den chinesischen Filmemachern, dem Festival seinen Stempel aufdrückt. Ein mysteriöses Szenenfoto aus seinem Film ¸¸In the Mood for Love" wurde als Motiv des offiziellen Plakats ausgewählt, und es gibt die Stimmung vor: Eine Frau, nur als Schattenriss erkennbar, steigt eine düstere, enge, in schwaches rotes Licht getauchte Treppe herab. Kein Hinweis deutet darauf hin, wer sie ist oder was sie vorhat, aber die Imagination findet sofort eine Erklärung: Natürlich ist sie auf dem Weg in einen dunklen Kinosaal, vielleicht sogar hier, im Festivalpalast - und große Geschichten warten darauf, sie zu verzaubern, zu schockieren oder ganz einfach ihr Herz zu brechen.

Cannes Festival

Der erste (und diesmal auch der einzige) Wettbewerbsbeitrag aus Asien passt gleich perfekt zu dieser Stimmung: ¸¸Summer Palace" von Lou Ye, ein Film aus der Volksrepublik China. Wobei die Frage völlig offen ist, ob er auch bis zur Vergabe der Palmen im Wettbewerb bleiben wird. Um an einem internationalen Festival teilzunehmen, braucht jeder chinesische Film die Zustimmung eines zentralen Zensurkomitees in Peking - und diese Zustimmung wurde ¸¸Summer Palace" offenbar in letzter Sekunde verweigert. Für den Regisseur ist das nichts Neues, er hat im Jahr 2000 auch seinen gefeierten, traumwandlerischen Liebesthriller ¸¸Suzhou River" schon ohne solche Genehmigung auf internationale Festivals geschickt. Die Folge war allerdings ein zweijähriges Berufsverbot. Wird er auch diesmal den Repressionen trotzen? An politischer und erotischer Sprengkraft jedenfalls setzt ¸¸Summer Palace" neue Maßstäbe im chinesischen Film: Es geht um nichts weniger als die Studentenproteste, die im Jahr 1989 zum Massaker auf dem ¸¸Platz des himmlischen Friedens" führten.

Oder Moment. Eigentlich geht es darum gerade nicht. Im Grunde sind die Plakate, die Sprechchöre, die Lastwagen mit Studenten, die demonstrierend durch Peking fahren, nur der Hintergrund für eine große, unglückliche, sturm- und drangvolle Liebesgeschichte aus der jüngsten Vergangenheit. Gewalt und Oppression werden nicht direkt gezeigt, die Tumulte des Herzens sind wichtiger als die Tumulte der Politik - und gerade dieser Fokus aufs Private, sicher von der Zensur erzwungen, ermöglicht dem Film seine stärksten Momente. So kommt ¸¸Summer Palace" zu der höchst modernen Erkenntnis, dass die trotzigen Blicke einer jungen Frau, ihr Liebeshunger, ihre Unfähigkeit, sich anzupassen, ihre Hoffung, im Sex so etwas wie Erlösung zu finden, am Ende genauso politisch sein können wie das größte politische Manifest. Die Präsenz der faszinierenden Newcomerin Lei Hao erzählt schon alles, was man dazu wissen muss - weit mehr jedenfalls als ihre poetisch-erklärenden Tagebucheinträge, die einzige Schwäche dieses wildbewegten Films.

Wie man Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt und Bürgerkrieg rein politisch erzählen kann, beweist wieder einmal Ken Loach, der alte Sozialisten-Haudegen unter den englischen Regisseuren. Und genau das ist auch ein wenig das Problem, denn exakt diesen Beweis hat er schon oft erbracht, und jetzt tritt er mit jedem neuen Film gegen sich selber an. ¸¸The Wind that Shakes the Barley" ist der Wind eines alten irischen Volkslieds, der über die Halme der Gerstenfelder streicht. Darin drückt sich eine Sehnsucht nach Frieden und Sicherheit aus, die im Irland der zwanziger Jahre gerade nicht zu haben ist. Aus Männern in tollen Proletarierkappen und wunderbar rauen Arbeiterjacken formen sich die ersten Kämpfer der IRA - natürlich mit dem Ziel, die verhassten britischen Soldaten aus dem Land zu jagen. Was wie die simple Verherrlichung einer Terrortruppe beginnt, gewinnt an Komplexität, als Verräter hingerichtet werden müssen und schließlich, auch ohne die Engländer, Brüder gegen Brüder kämpfen. Unabhängigkeitskriege sind eine schmutzige Sache, auf allen Seiten geht die Unschuld verloren - aber was genau will der Film darüber hinaus sagen? Ken Loach zeigt, dass er immer noch wuchtig agitieren kann, wenn Frauen von brüllenden Soldaten misshandelt werden, er freut sich an den historischen Kostümen und inszeniert elaborierte Hinterhalte in der grünen irischen Landschaft - aber der Kern seiner Erzählung bleibt unscharf und der Film damit deutlich unter seinem eigenen Niveau.

Bei Wong Kar-Wai und seiner Truppe dürfte er so kaum punkten, vermutet man - denn auch die Zusammensetzung der Jury scheint ganz dem Geschmack ihres enigmatischen Präsidenten zu folgen: Gleich drei wunderschöne Schauspielerinnen hat er an seiner Seite, die Chinesin Zhang Ziyi, die Engländerin Helena Bonham-Carter und die Italienerin Monica Bellucci. Das führte bei Journalisten bereits zu der Nachfrage, ob denn auch genügend filmischer Sachverstand in dieser Jury vorhanden sei. Wong Kar-Wai ließ sich von dieser sexistischen Provokation jedoch nicht eine Sekunde lang aus der Ruhe bringen: ¸¸Diese Frauen sind Schauspielerinnen von Beruf", antwortete er weise, ¸¸und Filmemacherinnen aus Berufung."

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