65. Filmfestival Cannes:Zum ersten Mal Glück im Leben

Zwei Parabeln vom Überleben im Kapitalismus, die in ihrem Fazit aber deutlich voneinander abweichen: Brad Pitt macht in "Killing Them Softly" einmal mehr klar, dass auf der Welt nur das Recht des Stärkeren gilt. Doch einer wie Ken Loach denkt weiter. In "The Angels' Share" liebt er alles nieder, was ihm nicht gefällt.

Susan Vahabzadeh, Cannes

Filmfestivals sind ja nicht allein dazu da, damit ein paar tausend Cineasten und Schaulustige sich in der nassen Kälte vor den Theatern eine ordentliche Erkältung holen. Alle Filme zusammen sollen mehr ergeben als die Summe ihrer Einzelteile, ein Programm ist zwar nie repräsentativ, aber es gibt doch wiederkehrende Motive, gemeinsame Themen, die offensichtlich Regisseure aus aller Herren Länder beschäftigen.

65th Cannes Film Festival - The Angels' Share

"The Angels' Share" - Auch für lupenreine jugendliche Trottel gibt es bei Ken Loach noch eine Chance.

(Foto: dpa)

Das Kino versucht, sich auf die Welt seinen Reim zu machen, und wenn man in den Filmen, die es in die offizielle Auswahl der 65. Filmfestspiele von Cannes geschafft haben, eine Gemeinsamkeit erkennen kann, dann ist sie sehr ernüchternd: Irgendwo zwischen Eurokrise und der Furcht davor, wie die abendländischen sozialen Errungenschaften endgültig unter dem Druck des Kapitalismus zusammenbrechen, macht das Kino als der Menschheit größten Feind die eigene Dummheit aus.

Fangen wir mal mit der europäischen Variante an, mit Ken Loachs Wettbewerbsfilm "The Angels' Share" - zu dessen Beginn stehen drei lupenreine jugendliche Trottel in Glasgow vor Gericht, für ziemlich absurde Straftaten, Papageienraub, beispielsweise. Bei Robbie, dem vierten im Bunde, sieht die Sache schon anders aus, er wird immer wieder in richtig brutale Schlägereien verwickelt - und allein kommt er da nicht heraus, er ist in den Mechanismen eines schlechten Viertels gefangen. Alle vier haben eine große Klappe, das hört sich lustig an, aber es steckt nichts dahinter.

Loach wäre nicht Loach, wäre gegen die Dummheit dieser Viererbande nicht doch ein Kraut gewachsen - er glaubt einfach an das Gute im Menschen, daran, dass sich in jedem ein wenig Potential verbirgt, dass mit ein wenig Fürsorge für so ziemlich jede Biographie noch einmal neue Weichen gestellt werden können.

Die vier haben dann zum ersten Mal in ihrem Leben Glück: Sie werden zu Sozialarbeit verdonnert, und ihr Betreuer nimmt seinen Job richtig ernst. Er kümmert sich um die Kids - und so passiert es, dass er sie mitnimmt in eine Whisky-Destillerie, wo sich herausstellt, dass Robbie, der gerade Vater geworden ist und endlich solide werden will, ein besonders feines Näschen hat für geistige Getränke.

Ein Raub, bei dem kein Schaden entsteht

Seine neue Begeisterung für schottischen Whisky lässt sich dann tatsächlich als Zukunftschance nutzen, wenn auch nicht auf ganz legalem Weg. "The Angels' Share" entwickelt sich zu einer Art "Ocean's Four", ein Raub, bei dem kein Schaden entsteht - die Kids mopsen ein wenig Whisky, der so alt ist, dass er sowieso nur bei einem reichen Sammler im Trophäen-Keller gelandet wäre.

Angels' Share" ist, von "Looking for Eric" abgesehen, Loachs komischster Film geworden. Der 76-jährige Filmemacher hat diese Jugendlichen - anders als die Kids in Abbas Kiarostamis Wettbewerbsbeitrag "Like Someone in Love", die ihrem Schöpfer spürbar fremd bleiben - zu ganz wunderbaren, lebendigen Figuren gemacht:

Man kann bei diesem Film wirklich nicht behaupten, er predige zu den Konvertierten. Die Typen, die er zeichnet, hätten selbst einen Riesenspaß in diesem Film, würden sie sich denn über die Schwelle eines Arthouse-Kinos trauen. Mit entwaffnender Warmherzigkeit inszeniert Loach einen moralisch vertretbaren Coup: Der Anteil der Engel, das ist der Whisky, der mit jedem Jahr der Lagerung aus den Fässern verdunstet - ein wenig Schwund ist immer dabei, und wer weiß schon so genau, wieviel Engel trinken?

Das Spiel muss weitergehen

Der Neuseeländer Andrew Dominik (erfolgreich mit "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford") hat seinen neuen Film "Killing Them Softly", der ebenfalls im Wettbewerb lief, wieder in den USA gedreht - ein Land, das er interessant findet, aber ganz offensichtlich nicht besonders mag.

In "Killing Them Softly" haben drei kleinkriminelle Idioten eine richtig blöde Idee: Sie rauben ein illegales Casino aus, dessen Betreiber Markie (Ray Liotta) bei seinen Bossen schon einmal damit durchgekommen ist, sich selbst zu beklauen. Also, denken die drei, wird wieder er in Verdacht geraten, und sie können ihre Beute in hässlichen Bars durchbringen.

Pustekuchen. Der von den Supergangstern auf den Fall angesetzte Killer Cogan (Brad Pitt) beschließt zwar, erstmal den Markt zu beruhigen - niemand betritt ja mehr ein illegales Casino, wenn er Gefahr läuft, dort ausgeraubt zu werden -, indem er Markie aus dem Verkehr zieht: Das Spiel muss weitergehen, damit die Bosse Gewinn machen. Aber wenn er schon mal dabei ist, will er gleich richtig aufräumen im scheußlichsten Viertel von New Orleans, einer Stadt, mit der man weder den Dauerregen noch die Gesichtslosigkeit verbinden würde, die Dominik hier zeigt.

Gangsterfilme, sagt Dominik, handeln grundsätzlich vom Kapitalismus - und so hat er aus dem Roman, den George V. Higgins in den Siebzigern schrieb, eine Parabel auf die Börsenspielchen von heute gemacht. Hat die Geschichte verlegt auf den Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst 2008, Barack Obamas Wahlkampfreden und George W. Bushs ökonomische Durchhalteparolen röhren aus den Fernsehern, während Cogan allen die Spielregeln klarmacht: Wer sich in seiner Gier mit den Königen der Gier anlegt, geht unter, und die Bank gewinnt immer.

Dominik hat das stilistisch einwandfrei inszeniert, mit schönen kleinen Drogenrausch-Effekten, Zeitlupen und Spiegelungen, und Brad Pitt ist in Höchstform. Die Politparabel ist vielleicht manchmal ein wenig zu plakativ geraten, aber sei's drum: An der Wall Street ist Geld nun mal tatsächlich wichtiger als Menschen. Und wahrscheinlich hat sich dort auch Cogans Motto herumgesprochen: Man sollte bei der Arbeit nicht so nah an die Menschen rangehen und sich den ganzen Gefühlskram antun.

In der Nebenreihe "Un certain regard" lief "After Lucia" des jungen mexikanischen Regisseurs Michel Franco - die Geschichte eines Highschool-Mobbings, die ganze Klasse schießt sich ein auf ein Mädchen, das nach dem Tod der Mutter in einer neuen Stadt mit dem Vater versucht, sich wieder im Leben einzurichten.

Weit unten in der Nahrungskette

Ein durch und durch brutaler Film, im Grunde auch grausamer als "Killing Them Softly". Das Prinzip ist aber dasselbe: Wenn eine Gesellschaft erst einmal Gewalt und Betrug, Lüge und Verrat zugelassen hat, dann gilt nur noch das Gesetz des Stärkeren. Die Kids in "After Lucia" lernen dann allerdings noch dazu, dass sie in der Nahrungskette relativ weit unten stehen.

Vielleicht ist die Welt wirklich so - aber im Grunde denkt einer wie Ken Loach dann doch weiter, der ihr auf seine Art den Kampf ansagt: Film um Film liebt er alles nieder, was ihm nicht gefällt. Alles, was man dazu braucht, ist ein guter Geist - am besten vierzigprozentig.

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