Sprachlabor:Alles möglich

Lesezeit: 1 min

(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

"Keiner will den Dreck, aber alle den Strom": So lautete jüngst eine Überschrift, was ein Leser verbrecherisch fand. Hier muss man daher kriminalistisch vorgehen.

Von Hermann Unterstöger

"KEINER WILL DEN DRECK, aber alle den Strom." So lautete die Überschrift zu einschlägigen Leserbriefen, und Leser T. findet, dass, wer diese Schlagzeile "verbrochen" hat, seinen Deutsch-Unterricht rekapitulieren sollte. Da Herr T. es damit bewenden lässt, ist zu vermuten, dass ihn die Singularform will stört, die zwar zu dem Subjekt keiner passt, nicht jedoch zu dem im Plural stehenden zweiten Subjekt alle. Einwände dieser Art kommen immer wieder, und sie erinnern in der Tat an ein wichtiges Thema: die Kongruenz zwischen Subjekt und Prädikat. Erst vor ein paar Wochen hatten wir einen Satz des Inhalts, dass bei VW nicht die Autos das Problem sind, sondern die Führungskultur, einen Fall, bei dem Leser W. die Führungskultur um das ihr zustehende Singularprädikat gebracht sah.

Dies vorweg: Natürlich ist gegen die ausführliche Fassung "Keiner will den Dreck, aber alle wollen den Strom" nichts zu sagen, sieht man einmal von dem zeitungstechnischen Einwand ab, dass so eine Schlagzeile möglicherweise nicht in den ihr zustehenden Platz passt. Für die innig gefühlte Richtigkeit unserer Variante lassen sich aber auch ein paar Argumente ins Feld führen, insbesondere Kurzsätze wie "Alle schwitzen, ich nicht" oder "Paul schwieg, seine Kumpel auch", bei denen im Interesse der Dramatik und der dazu dienlichen Ökonomie im Satzbau auf die Prädikatparallelen schwitze und schwiegen verzichtet wird.

Zur Stützung der These, wonach sich in Fällen wie unserem das Prädikat nach dem ihm benachbarten Subjektteil richtet, sei der Satz "Entweder ich oder du musst jetzt gehen" zitiert. Helmut Glück erörtert ihn im Metzler-Lexikon Sprache folgendermaßen: "Unterscheiden sich zwei oder mehrere Subjektausdrücke, die disjunktiv koordiniert sind, hinsichtlich der Person, wird in der Regel Kongruenz zu dem topologisch dem Finitum an nächsten stehenden Ausdruck etabliert." Das betrifft zwar die Kongruenz der Personalform, passt aber, und das nicht nur topologisch, auch zu der des Numerus.

© SZ vom 01.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: