SPD:Zeit für offene Worte

Geht die einstige Volkspartei ihrem bitteren Ende in naher Zukunft entgegen? Der neuen Vorsitzenden Andrea Nahles, so glauben Leser, wäre es schon zuzutrauen, eine Erneuerung der Partei in der Regierung zu schaffen.

Außerordentlicher Bundesparteitag der SPD

Andrea Nahles beim außerordentlichen SPD-Parteitag in Wiesbaden.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

"Rücken zur Wand" vom 24. April:

Wo steht sie eigentlich?

Ferdos Forudastan glaubt, wenn sich Andrea Nahles und die Spitzengenossen neu aufstellen, käme die SPD aus ihrem Tief heraus. Was das allerdings genau heißt, darauf kennt offenbar auch Forudastan nicht die Antwort. Wie auch? Wie soll, bitte schön, diese Erneuerung eigentlich aussehen bei einer von der Parteispitze bis in die mittleren und unteren Funktionärsränge neoliberal kontaminierten Partei?

Verantwortlich für den desolaten Zustand der SPD waren ja nicht nur Akteure wie der ehemalige Kanzlerkandidat Martin Schulz und der weggemobbte Sigmar Gabriel. So haben der 40-köpfige Vorstand der Partei sowie fast alle Landes- und Unterbezirke stets alles abgenickt, was in den vergangenen Jahren beschlossen wurde, von der stramm neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik bis hin zu den 180-GradWenden bei der Koalitionsfrage.

Und ausgerechnet Protagonisten wie Andrea Nahles und Olaf Scholz, beide seit den 90er-Jahren an führenden Stellen in der SPD tätig, sollen das Blatt wenden helfen? Ich glaube, die Bevölkerung hat ein klareres Gespür für die derzeitige Situation der SPD als so manche Kommentatoren. Die Wahl von Nahles wird von 66 Prozent der Deutschen als grandiose Fehlbesetzung empfunden! Weder traut die Mehrheit der Bevölkerung ihr die erforderliche Kompetenz zu, noch findet ihr zeitweiser vulgärer Stil Sympathie.

Das Hauptproblem der SPD ist, dass sie keine klare gesellschaftspolitische Position bezieht, wie zum Beispiel die britische Labourparty. Will sie als Partei der sogenannten Mitte weiterhin Politik für Kapital- und gewerkschaftliche Klientelinteressen oder Politik für die Mehrheit des Landes machen? Zum Letzteren würde ein radikaler Kurswechsel in der Steuerpolitik gehören mit dem Ziel, die von der SPD zu verantwortende skandalöse Vermögensumverteilung von unten nach oben durch Einführung einer Vermögensteuer sowie einer spürbaren Erhöhung der Kapital- und Erbschaftsteuer umzudrehen, dazu gehören massive Investitionen in Gesundheit, Pflege, Bildung und bezahlbaren Wohnraum und vor allem eine Umweltpolitik, die die aktuellen Bedrohungen der Menschheit durch den Klimawandel ernst nimmt. Da dies alles von dieser SPD nicht zu erwarten ist, zeichnet sich das bittere Ende dieser einstigen Volkspartei in naher Zukunft ab. Horst Isola, Bremen

Die Uhr zurückdrehen ist falsch

In ihrer Bewerbungsrede für den Parteivorsitz hat Andrea Nahles ein Versprechen abgegeben: Sie werde den Beweis dafür antreten, dass man die Partei in der Regierung erneuern könne. Wenn dies jemand in der SPD zuzutrauen ist, dann Andrea Nahles. Nahles ist eine leidenschaftliche Vollblutpolitikerin mit erheblichem Durchsetzungsvermögen. Sie hat Machtwillen, einen ausgeprägten Killerinstinkt und Humor, auch wenn er zuweilen etwas grobschlächtig des Weges kommt.

Nahles galt in der vorherigen Bundesregierung als eine der stärksten Ministerinnen im Kabinett. Den Mindestlohn hat sie gegen viele Widerstände durchgesetzt. Mit Angela Merkel verbindet sie, dass sie auf ihrem Weg an die Spitze der Partei so manchen innerparteilichen Konkurrenten "aus dem Weg" räumen musste. Aber genau wie bei Merkel ist es ihr nicht zum Vorwurf zu machen, wenn sich die meist männlichen Konkurrenten nahezu kampflos frühzeitig "vom Acker" machten.

Viele Sozialdemokraten hängen noch immer einer vergangenen Epoche nach, in der der lebenslange, tariflich abgesicherte Vollzeit-Arbeitsplatz der Normalfall war. Als es den Wettbewerbsdruck der Globalisierung noch nicht annähernd in dem Maße gab wie heute und neue soziale Wohltaten noch vertretbar zu sein schienen. Von der digitalen Revolution war damals ebenfalls noch nicht die Rede.

Nahles muss diesen Genossen einen Weg aufzeigen, wie die SPD Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung glaubwürdig voranbringen kann. Sie muss deutlich machen, dass dies nicht geht, indem man die Uhr zurückdreht. Alfred Kastner, Weiden

Gegen den rechten Rollback

Mit der ersten Wahl einer Frau zur SPD-Parteivorsitzenden in der über 150-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie hat die SPD ebenso ein Zeichen gesetzt wie mit der Kandidatur zweier Genossinnen für das höchste Amt, das die Partei zu vergeben hat. Die Tatsache, dass Simone Lange als Gegnerin der großen Koalition auf etwa dieselbe Unterstützung rechnen konnte wie die Gegner dieses Regierungsbündnisses bei dem Mitgliedervotum, zeigt deutlich, dass die Partei bei einem nicht irrelevanten Drittel der Mitglieder eine Fundamentalopposition gegen die große Koalition verzeichnen kann. Die Gegenkandidatur mit ihrer Personaldiskussion hat für die SPD durchaus etwas Erfrischendes. Sie zeigt, dass in der SPD, und das sollte man positiv hervorheben, inzwischen die Zeit des Abnickens, in der Schröder-Ära Praxis, vorüber ist.

Die schwierige Aufgabe, vor der Andrea Nahles jetzt steht, wird es sein, an der Erneuerung der SPD zu arbeiten und dennoch Regierungspartei zu sein. In der Praxis muss das heißen, dass die Bundesregierung immer dann auch öffentlich von der SPD kritisiert werden muss, wenn CDU/CSU versuchen, den Koalitionsvertrag einseitig zugunsten der Konservativen auszulegen. Viele SPD-Mitglieder, die wie ich vor langer Zeit ausgetreten waren und jetzt wieder eingetreten sind, werden mit Freude vernehmen, dass die neue Parteivorsitzende für eine Praxis stehen könnte, in der das offene Wort entsprechend der Tradition der Sozialdemokratie wieder häufiger ausgesprochen wird.

Martin Schulz, der einstige Parteivorsitzende, der zu Recht von den Delegierten mit Standing Ovations gefeiert wurde, brachte es zum Schluss des Parteitages auf den Punkt, es gehe in diesen Zeiten um nicht mehr und nicht weniger als den Schutz und den Erhalt der Demokratie in Europa. Zu bedrohlich ist die Entwicklung, die von Rechtspopulisten in Europa ausgeht. Um das zu verhindern, braucht man eine starke Sozialdemokratie. Deshalb muss die allererste Aufgabe von Andrea Nahles und ihren Mitstreitern die Verhinderung eines rechten Rollbacks sein. Mögen sich die Sozialdemokraten nicht im kleinkarierten Streit der Tagespolitik vom Ziel des Zurückdrängens der braunen Gefahr abbringen lassen. Denn es geht um den Erhalt des liberalen und demokratischen Antlitzes dieser Republik. Der Sonderparteitag zeigte, dass die SPD Demokratie lebt, wobei es auch bleiben soll. Manfred Kirsch, Neuwied

Durchaus respektabel

Was soll das denn jetzt? Da gewinnt Andrea Nahles mit 66 Prozent gegen eine respektable Konkurrentin. Und die Journalisten der Qualitätsmedien sprechen von einem Dämpfer? Haben die sich schon an 100-Prozent-Ergebnisse gewöhnt? Auch wenn man offenbar zum Erhalt der eigenen Geschichte gerne den Autopiloten einschalten möchte - lasst das. Der Journalismus wird nicht besser dadurch. Margret Beck, Hamburg

Es mangelt an Glaubwürdigkeit

Zu "Ich bin vielleicht ein bisschen eruptiv", vom 21./22. April: Andrea Nahles' Wunsch, dass die SPD "ein Ort für interessante Debatten wird, wo wir an Konzepten arbeiten", ist kein Ansatz für eine Erneuerung der SPD. Das ist noch nicht einmal ein Weiter-so. Wie kommt sie darauf zu behaupten, dass die SPD durch gutes Regieren eine gute Bilanz vorweisen kann und Glaubwürdigkeit bei einem Wahlergebnis von 20,5 Prozent geschaffen hat? In mehreren Umfragen gibt es stetige knapp 30 Prozent der Wähler, die der SPD nahestehen. Wählen würden sie aber zurzeit nur weniger als 20 Prozent. Warum wohl? Ich meine, wegen der fehlenden Glaubwürdigkeit. Hierzu nur zwei Beispiele von der neuen Regierung:

Von Hubertus Heils unter Nahles begonnenem Gesetzesvorhaben über die Rückkehr aus der Teilzeit können nur 55 Prozent der Arbeitnehmer profitieren, die anderen 45 Prozent arbeiten in zu kleinen Firmen, wie große Teile der CDU und der Arbeitgeberverbände meinen. Das ist eine Verletzung des sozialdemokratischen Grundwertes Gerechtigkeit. Glaubwürdig wäre die SPD, wenn sie dieses Gesetz gegenüber dem Wähler als ersten Schritt darstellen und nicht von "wir haben gut regiert" sprechen würde.

Im Koalitionsvertrag war Europa der Schwerpunkt, der dort als Punkt 1 formuliert worden ist. Seit die große Koalition steht, fangen mehr und mehr Abgeordnete der CDU/CSU an, an den Passagen, die auf eine Neuorientierung und Stärkung Europas hinauslaufen, herumzumäkeln. Wo bleibt da der Aufschrei der sozialdemokratischen Hüterin des Koalitionsvertrags, nämlich der Fraktionsvorsitzenden? Dietram Hoffmann, Überlingen

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen.

Außerdem behalten wir uns vor, Leserbriefe auch hier in der Digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und bei Süddeutsche.de zu veröffentlichen.

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