Schule:Lernziel Kompetenzvortäuschung

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Christoph Türcke hat jüngst in seinem Artikel "Fatale Schmeichelei" festgestellt, dass man "Kompetenz" nicht als "Bildung" bezeichnen könne. Leserinnen und Leser stimmen dem zu und ergänzen es mit eigenen Beobachtungen.

Die heutigen Kinder sollen ganz schnell alles können, schon in der Grundschule: Viertklässler vor dem Computer. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

"Fatale Schmeichelei" vom 7. Juli:

Bildung ist etwas ganz anderes

Der Autor Christoph Türcke bringt ziemlich genau das Unbehagen auf den Punkt, das jeder erfahrene Pädagoge verspürt, wenn er nur das Wort Kompetenz von Ferne hört. Vom lateinischen "competere" kommend bedeutet es "zu etwas fähig sein". Nur wozu? Was nützt es, wenn ich den Sinn, die Hintergründe und Ursachen der Handlung nicht kenne, zu der ich fähig sein soll? Der Autor belegt das Dilemma sehr deutlich mit dem von ihm angesprochenen Beispiel der Zeigekompetenz. Die heutigen "modernen" Lehrpläne müssen leider in erster Linie kompetenzorientiert sein, das heißt sie beginnen mit irgendeiner Aufzählung von Kompetenzerwartungen, denen dann die Lerninhalte nachgeordnet werden, mit denen die aufgeführten Kompetenzen erworben werden sollen. Dabei gehen nach meiner Einschätzung vor allem bei übertriebenem Einsatz wichtige Bildungsinhalte verloren.

Bildung kann und darf man nicht auf Kompetenzen reduzieren; sie dienen lediglich der Ergänzung und Anwendung der ausgewählten Lernziele. Neben diesen aufgeführten Fach- und Sachkompetenzen sollten Schülerinnen und Schüler nach Möglichkeit auch noch beherrschen: die Sozialkompetenz, die Medienkompetenz, die Handlungskompetenz, die Selbstkompetenz oder gar die Flexibilitätskompetenz usw. Der Kompetenzen ist kein Ende gesetzt. Es ist ganz ernsthaft zu befürchten, dass bei diesem Wust an Kompetenzen als wesentliche Kompetenz nur die "Kompetenzvortäuschungskompetenz" erworben wird. Bildung ist etwas ganz anderes. Rainer Pippig, Neuried

Verherrlichung des Erfolgs

Christoph Türcke berichtet in seiner wunderbar zu lesenden Kritik der Kompetenzorientierung davon, dass ihre Ergebnisse den Klagen der Unis und Betriebe zufolge weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Aber liegt in der Nachricht, dass "hinten nichts rauskommt", was das an Kompetenzen ausgerichtete Lernen und Unterrichten verspricht, nicht fast ein gewisser Trost angesichts dessen, was diese Verherrlichung des Erfolgs als Ziel anstrebt? Alle Herausforderungen, denen das Individuum im Arbeitsleben begegnen wird, soll es optimal meistern können, alle Aufgaben lösen können, zu allem bereit sein? Im Rahmen der Kompetenzdebatte erscheint die Idee, dass man mit dem, was man lernt, möglicherweise selbst etwas anfangen wollte, das einem am Herzen liegt, ohnehin abwegig. Und wenn es den Absolventen kompetenzorientierter Schullaufbahnen und Studiengänge vor lauter selbstreferenzieller Reflexion der eigenen Eignung - Was kann ich? Wo stehe ich? Wie bin ich? -, zu der sie in Gestalt diverser Portfolios und Lerntagebücher unentwegt angehalten werden, nicht mehr ganz so gut gelänge, die für die Produktion von Rüstungsgütern, giftigen Chemikalien, die Privatsphäre vernichtender Überwachungssoftware, für das Betreiben von brandgefährdeten Textilsklavenfabriken oder für das kostengünstige Verkleiden von Wohnhochhäusern mit Brandbeschleunigern erforderlichen Rechenoperationen und Arbeitsschritte auszuführen, müsste das ja kein Nachteil sein. Zynisch? Dies scheint doch mehr zuzutreffen auf die Verkehrung der im Kompetenzbegriff liegenden intellektuellen Selbstaufgabe zu etwas Positivem, in dessen Mittelpunkt scheinbar der Mensch steht, um den sich alles dreht. Seine wirkliche Rolle dabei hat wohl eher Dieter Hildebrandt beschrieben: "Der Mensch ist Mittel. Punkt!" Dr. Doris Englert, München

"Eine Treppe bauen"

Laut Türcke kommen die Lehrer nicht mehr dazu, Jüngeren "lebensrelevante Sachverhalte zu eröffnen", weil sie wegen der Computerisierung des Unterrichts und der kleinschrittigen behavioristischen Stoffvermittlung zu "Lernbegleitern", zu "Anhängseln von Arbeitsblättern oder Computerprogrammen" degradiert werden. Es wäre schlimm bestellt um die Bildung unserer Schüler, Auszubildenden und Studenten, auch um das Selbstbild der "degradierten" Lehrenden und schließlich auch um die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft, wenn Türckes bildungspessimistische Verallgemeinerungen und Deutungen realistisch wären.

In dem großen Bereich der beruflichen Bildung hat die Kultusministerkonferenz schon vor über 20 Jahren begonnen, handlungs- und kompetenzorientierte Rahmenlehrpläne für viele Berufe einzuführen. In fast allen Bundesländern sind kompetenzorientierte Lernfelder an die Stelle alter Berufsschulfächer getreten. In Lernfeldern wie "Eine Treppe bauen" oder "Ein Verwaltungsverfahren durchführen" werden Fach-, Methoden- und Sozialkompetenzen personal gebündelt und tragen erfolgreich zu einer personalen Bildung bei.

In allgemein bildenden Schulen sind die Unterrichtsfächer schulstufenabhängig in unterschiedlichem Maße geeignet, über fachliches Wissen und Können hinaus ganzheitliche Kompetenzen zu vermitteln. Mathematik und Sozialwissenschaften in der Sekundarstufe zum Beispiel sind hier differenzierend zu sehen. In jedem Fall fördern Fächer übergreifende Unterrichtsprojekte Kompetenzen. Zurzeit wird im Schulwesen verbreitet an der Einbringung von Kompetenzen in Lern- oder Bildungspläne gearbeitet. Soweit dies im Wesentlichen durch die Verknüpfung bisheriger Lernplaninhalte mit einer Kompetenzebene besteht, dürfte dies kaum zu Veränderungen im Unterricht führen, wohl aber zu einer deutlichen Mehrbelastung der beteiligten Lehrkräfte. Wer substanzielle Veränderungen befürchtet, hat nicht viel zu erwarten. Hans-Gerd Düngen, Dortmund

© SZ vom 19.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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